Das Album »Sissel« ist ein Live-Mitschnitt aus der Konzertreihe »Moving Sound«, die 2016 im norwegischen Stavanger stattfand, eine der vielen Arbeiten von John Tilbury mit Keith Rowe, die gemeinsam schon bei AMM über Jahrzehnte die Musik bis an ihre Grenzen trieben. Der Videokünstler Kjell Bjørgeengen gab den beiden Nicolas Poussins »Landscape with the Gathering of the Ashes of Phocion by his Widow« zur Inspiration. Im Mittelpunkt des Bildes kniet eine Frau, die im Schutze einer Komplizin heimlich die Asche ihres hingerichteten Mannes aufsammelt, während sich am Himmel ein Unwetter auftut, der See im belebten Park jedoch (noch) stillsteht. Welche Verzweiflung und Trauer die Frau antreiben, noch die letzten »Reste« ihres Geliebten im Verborgenen aufzusammeln, welchen Verlust sie damit noch verhindern will, darauf gibt uns das Bild keine Antwort, lässt uns ohne weiterzusprechen zurück. Von dieser heimlichen Aktion bleibt eine bedeutungsschwere Stille übrig.
Verlust und Trauer sind Themen, die auch Tilbury, Rowe und Bjørgeengen beschäftigen. Ein paar Wochen vor dem Auftritt in Stavanger verstarb Bjørgeengens Ehefrau Sissel. So ist der Hauptakteur dieser Aufnahme die Stille, die in den etwa 50 Minuten improvisierter Musik immer wieder kurz zerrissen wird. Türen gehen auf, es knarrt, ein vielverheißender Basston schwebt auf dem Klavier. Aufgeladenes Knistern der Elektronik klingt wie die sich langsam für immer schließende Tür. Jeder Ton ist bloß ein flüchtiger Blick in den Abgrund, der sich auftut, wenn man mit sich selbst ins Gespräch kommt, während alle anderen Stimmen verhallen. Es bleibt in diesem Nichts jedoch Platz für alles andere, sich zu entfalten: Gefühle, Bilder, Erinnerungen, Ängste. Die sparsamen, stets treffsicheren Töne sind die Wegweiser in diesem Spaziergang durch die Einsamkeit. Tieftraurig, jedoch höchst sinnlich und würdevoll.