Foto: © Braun
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Immer Ärger mit dem Rückspiegel

Mit seinem neuen Buch »Retromania« hat der britische Pop-Journalist Simon Reynolds wieder einmal in
ein Wespennest gestochen und sorgt für gehörige Diskussionen.

Box-Sets mit zig Bonus-Outtakes, Reunions von Bands aus dem Jahre Schnee, komplett nachgespielte Albenkassiker als Livespektakel und eine Tonträgerindustrie, die bei ihrer Retroökonomie nun auch in Europa das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre erhöht. Auch für Reynolds würgen die ewigen Retroschleifen immer mehr das Neue ab. Und das Internet entgeht dabei nur knapp der Bezeichnung ??Reich des Bösen??. Wieso eigentlich?

Lost in Rhizomania

Statt dem ewigen Wehklagen über ein zu viel an Referenzhöllen (an Archiven, Kontexten, Querverweisen, Fu&szlignoten zu Fu&szlignoten), sollte vielleicht eher danach gefragt werden, wann, wie, wo (und mit welcher Absicht) jene Skills abhan – den gekommen sind, da fröhlich strahlend und glücklich overloaded durchzukommen. Die besten Referenzhöllen sind sowieso immer schon voll mit Wegweisern, Hinweisschildern und Aussichtsplattformen ausgestattet gewesen. Nur das Genie, als durch »Eigenblutdoping« besinnungslose Ich-AG, sagt in seiner grenzenlosen Verblödung zur Referenzhölle »Alles meins«.
Das Problem mit dem Internet liegt eher darin, dass es als Netz einfach alles mitnimmt, was sich irgendwie in ihm verfängt. Im Netz sind wir vernetzt aber nicht verbunden, weil vernetzen nicht gleichbedeutend mit verknüpfen (können) ist (wovon Kreisky ja auch ein Lied singen). Viel eher nimmt das Netz einfach alles mit, was ihm begegnet, und schert sich dabei wenig um Differenzen. So wie sich User und Abuser scheinbar in den unendlichen Weiten des Internet immer mehr verlaufen (und dann halt auch keine Unterschiede mehr zwischen György Ligeti und Andreas Vollenweider ausmachen können), so verlaufen sich auch die Futuremaniacs bei ihrer verzweifelten Jagd nach dem ganz Neuen permanent und landen so selber in einem Loop, aus dem es kein Entkommen mehr gibt. Mehr noch: die Fixierung auf den jeweils neuesten Schrei verhindert geradezu das längere Eintauchen in eine Musik, einen Act, ein Genre. Das Dogma des ewigen »New« wird selber zur Selbstoptimierung von Pop. Bin ich noch Retro oder schon Future? Bin ich noch Future oder bin ich schon Retro?

Fakten, Fakten, Fakten

Die Fakten, Fu&szlignoten, Referenzen von »Retromania« erschlagen einem mit ihrer Akribie beinahe. Hier bastelt Reynolds an (s)einer eigenen Verweishölle weiter, die er schon bei »Rip It Up« begonnen hat. Und dagegen ist auch nichts zu sagen. Hier ist ein leidenschaftlicher Popfan am Werken. Umso komischer mutet es daher an, dass aus all dem nerdigen Abfeiern von Fakten eher Meinungen denn Schlüsse – es muss nicht immer gleich eine Theorie sein, obwohl »Retromania« an der Abwesenheit einer solchen schon etwas krankt – destilliert werden. Meinungen, meist im Sinne von Ablehnungen (dem »Ich-mag-das-nicht«), stehen jedoch auch bei einigen Analysen am Ausgangspunkt herum und verstellen dabei nicht selten den Blick. The Jesus & Mary Chain, Spacemen 3, Primal Scream und The Cramps (oder Shakin‘ Stevens und Alan Vega) in einen Retrotopf zu werfen, zeugt nicht gerade von einem differenzierten Zugang. Auch dass Northern Soul im Vergleich zum »zehnmal besseren« Output von Motown eher Retromist war, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Vielleicht geht es bei der Suche nach und Liebe zu obskurer Musik ja auch um etwas ganz anderes als das Obskure an sich.
Vielleicht geht es einfach um das, was als nicht unkontrollierten Regelbruch und das Scheitern innerhalb eines Genres. Denn das ist ja das Problem der Retromanie: Die Ränder, die Missverständnisse, die hidden places interessieren null. Stattdessen will das Amtliche von gestern zum Amtlichen von heute gemacht werden.

Vintagestores der Popsubkulturen

Reynolds selber liefert jedoch leider jede Menge Unschärfen, die seine Argumentationen (das Internet sei kein Archiv, sondern ein »Anarchiv«, in dem sich niemand mehr zurechtfinden kann) auf mitunter recht dünnen Beinchen stehen lassen. Für ihn stellt die Fortschrittlichkeit von Pop Ende der Sixties/Anfang der Seventies einen Teil des Projekts der Moderne dar, die zu diesem Zeitpunkt jedoch von der Kunst und der Architektur schon in Richtung Postmoderne verlassen wurde. Nur, war Pop nicht schon immer postmodern? Ein hybrides, durchaus globales Mischmasch aus unterschiedlichsten Zitaten, Referenzen, Entwendungen und Diebstählen aus anderen Genres. Mixte nicht schon die Operette Schlager, Jazz und Exotica zusammen? Wurde das nicht in der Tin Pan Alley in Richtung Pop weitergeführt? Reynold lobt stattdessen die Sixties wegen ihrer »absence of revivalism and nostalgia« in den Pop-Olymp. Damals war die Welt noch in Ordnung. »Pop ought to be all about the present tense«, sagte »be here now« (obwohl es die ersten Oldie-Radiostationen in den USA schon 1958 gegeben hat und die Sixties, angefangen beim Folk- und Blues-Revival bis hin zum »New Hollywood« und dem ebenso auf »Old Hollywood« zurückblickenden »Midnight Movies« und Vintage Stores des Underground, alles andere als unnostalgisch waren) und »live like there’s no tomorrow« (was zu Zeiten von Vietnam, Kaltem Krieg und ??der Bombe?? ja auch noch nachvollziehbar war). Dementsprechend seine Kritik an den 2000er Jahren: »Instead of being about itself, the noughties has been about every other previous decade, happening again all at once.«

Dabei verkennt er den ideologischen Kern der gro&szligen Erzählungen des »itself«. Die konnten sich ja nur breit machen, indem sie anderes radikal ausklammerten. Dass in diesem Zusammenhang bei Reynolds auch öfters das Wort »Dekadenz« als Beschreibung des von ihm nicht geschätzten Ist-Zustands fällt, macht die Angelegenheit nicht weniger komisch. Zu sagen, alles sei nur »Ersatz« (dekadente Second Order Hipness, ohne ??wahren Kern??) und frühere Revivals hätten sich noch als wahres Kernobst manifestiert, ignoriert die Tatsache, dass wer sich mit der First Order (dem »itself«) ins Bett legt, sich nicht darüber wundern darf, mit wem er am Morgen danach aufwacht.

Rock around avant la lettre

Um kein »victim« digitalisierter »overdata« zu werden, würde jedoch ein Griff in die Best-of- Nietzsche-Box genügen, um wieder einmal »die ewige Wiederkunft des Gleichen« aufzulegen. Denn worum geht es dabei? Nach Rammstein- Fan Slavoj Žižek um eine im Prinzip einfach Frage: »Steht sie für eine faktische Wiederholung, für die Wiederholung des ??Es war?? des Vergangenen als ??So wollte ich es?? oder für eine Wiederholung im Benjaminschen Sinne, eine Rückkehr/Reaktualisierung dessen, was im vergangenen Ereignis verlorenging, seines virtuellen Exzesses, seines Erlösungspotentials?«
Es geht nicht um ein Zurück (zu welchem Genre auch immer), sondern darum, überhaupt einmal eine Theorie des jeweils anvisierten Genres produzieren zu können (so gab es vor den Cramps so gut wie keine Theorie zu Trash wie vor Lenny Kays »Nuggets«-Sampler keine zu Sixties Garage-Punk, ebenso verhält es sich mit HipHop zu Funk). Das Quasi-Neue kann nur in Relation/Differenz zum Quasi-Alten benannt werden. Und wir wären schön blöde, wenn wir ein Aktuelles (sagen wir Skull Disco) wegen dem Wissen um ein Vorhergegangenes (WordSound) als ??Kenn ich schon?? abtun würden. Der Blick in den sonischen Rückspiegel ist daher weniger von der Ernüchterung geprägt, da soviel Altbekanntes zu entdecken, als vielmehr von der Verzückung soviel avant la lettre vorzufinden. In der hautologischen Tiki-Bar spielen Les Baxter und Sun Ra schon immer zusammen die Lieder des Saturn und jagen instrumentale Surf-Bands Richtung Acid (als Rock und House!).
Wenn es um Benjamins »vergessene Versäumnisse «, um die verpatzten und »verpassten Gelegenheiten « geht, erweist sich Pop in den 2000er Jahren jedoch selber als Pool »verpasster Gelegenheiten «. Die leeren Plätze der verschwundenen Utopien werden heute von jenen besetzt, die die Rückkehr der Dinge als schon per se Entzaubertes betreiben und deshalb auch so vehement den Pop- Proseminar-Pflichtkanon als ewig zu Bewahrendes darstellen.

Wir Verarschten

Im Grunde verhandelt Reynolds dabei das selbstgemachte Problem der Rockmusik, die ewig einem imaginierten Urzustand nachläuft, der irgendwo zwischen Vormoderne und Moderne gewesen sein soll und den dann Roxy Music & Co. ein für alle Male kaputt getrampelt haben.
Nur erwies sich spätestens in den 2000er Jahren das Konzept »Remake/Remodel« auch immer öfters als Bluff. Kurz gesagt: Wir wurden nach Strich und Faden verascht. Wie im Kino bei Gus Van Sants »Psycho« (Einstellung für Einstellung nachdrehen), Werner Herzogs »Bad Lieutenant« (das Remake als Säuberung), Quentin Tarantinos (Hauptsache das Zitat ist ironisch gemeint und die Quellen nicht gleich zugänglich) und »Twilight« (die Umdrehung aller Werte im Sinne sexueller Enthaltsamkeit). Diese Revivals des Richtigen im Falschen, die quasi feindliche ?bernahme der Parole »Rip it up & start again« findet sich heutzutage als verlängerter Arm der »Wickie, Slime & Paiper«-Rezeption von Pop fast überall. Das reicht vom Guido Knoppschen Zeitzeugentum des »Ich glaub, das kenn ich« bei der »Ultimativen Chart- Show« auf RTL bis hin zu Arte-Dokumentationen über »Frauen in der Rockmusik« ohne Slits und Riot Grrrls, dafür mit den No Angels. So gesehen kann auch Nina Hagen im Alleingang Punk erfunden haben – und es wird geglaubt.
Dementsprechend haben wir es auch immer mehr mit Pop-Phänomenen zu tun, die wie Bachelorabschlussarbeiten daherkommen. Gewohnt nur noch das Nötigste zu machen, wird die Pop-Pflichtliteratur nach einer Marktanalyse schön auf einer CD zusammengefasst.

Reinigung durch Retro

Retro als Orientierung an einer mythologisierten Vergangenheit wurde immer schon als Reinigung betrieben. Das »reine Zeichen« ist jedoch nur für den Preis einer reaktionären Besetzung und Aneignung zu haben. Ein Genuss ohne Nebenwirkungen. Soul hören, als hätte es HipHop nie gegeben, Funk, als wäre Techno nie passiert, Surf, als hätten Psychedelic und Hardrock/Heavy Metal nie stattgefunden. Wurde früher nicht auch Retro-Bands einfach mit dem Verweis klingt »like Punk never happened« die rote Karte gezeigt?
Keusche Kuschelvampire (»Twilight«) statt queerer Vampir-Dekonstruktion (»True Blood«). Revivals schonen das Gedächtnis, exekutieren »das Ende der Geschichte«, um es sich im Gestern gemütlich zu machen (Revisionismus und Restauration inklusive, »Legalize history« exklusive). Erinnerungen, Wissen, Diskurse, Dispute, Kämpfe, Antagonismen, Denken, Hegemonien, Rezeptionen dieser Zeit sind ihm herzlich egal, Antagonismen im Inneren von Pop ebenso.
Deshalb kann die Ideologie der Revivals nicht von Revivals von Ideologien getrennt werden (etwa das NDW-Revival der Berliner Republik als Renationalisierung durch Pop). The Bands, Neo Soul, Post Dub Step brachten im Schlepptau all jene Kamellen wieder, die gerade in den 1980ern aus guten Gründen angegriffen wurden: Wunderkinder, Genies, Talente, Selbstverwirklichung, Realness, live per Hand gespielte Instrumente (Madonna mit E-Gitarre, Laptop-Acts mit echtem Schlagzeug, etc.) – die ganze Authentizitätsdebatte halt, wo sich mit den Casting-Shows darum gestritten wird, was nun weniger »Das bist nicht du« ist.

I forgot to remember to forget you

Wenn Judith Butler festhält: »Es gibt kein Möglichkeit, nicht zu wiederholen«, ergeben sich in diesem Loop dennoch immer wieder Möglichkeiten von »Fehlaneignungen« (weshalb u. a. Heavy Metal als falsch angeschlossener Blues-Adapter auch stets jeglichen Blues-Rock-Manifestationen vorzuziehen ist). Kurz: »Die Frage ist nicht ob, sondern wie wiederholen.«
Butler ist jedoch nicht so naiv, die Skills (nachstellen, umarbeiten, resignifizieren) als ausschlie&szliglich subversiv zu betrachten. Schon in »Körper von Gewicht« geht es um Arten von Wiederholungen, »die nicht subversiv genannt werden« können, da sie zur »Festigung hegemonialer Normen«, zur »Reidealisierung« statt »Destabilisierung« dienen. Das Zitieren der The Bands im Neo Soul verschiebt nicht das Zitierte, sondern etabliert das Zitierte erneut als hegemoniale Norm. 
Das Unbehagen hinsichtlich der Retromanie der 2000er-Jahre speist sich ja weniger aus dem Umstand, dass etwas bekanntes Anderes zurückgespiegelt wird, als es für einen in Erinnerung war. Die Langeweile ergibt sich eher dadurch, dass sich die Unwissenden von heute auf die Unwissenden von gestern beziehen und dabei nicht einmal aus Versehen im Stande sind, Mehrwert zu produzieren, sondern gleich ins konservative Lager wechseln. Retro-Pop als Dixielandisierung von Pop. Da wurde in den 1950ern ja auch domestiziert und kuratiert, was das Zeug hält, während parallel dazu BeBop Jazz neu buchstabierte.
Es mag auch daran liegen, dass jener »spezielle Umgang«, von dem Diederichsen in »Musikzimmer « und anderswo bezogen auf Disco spricht (tagsüber »Kommerzware«, jedoch »setzte man sie nachts anders ein«), abhanden gekommen ist. Die Werkzeugkisten der subversiven Lesarten der Oberflächenphänomene von Pop sind kein Thema mehr (das Schreiben über Pop ist selber in die Retrofalle getappt, als die Theorie zum unnützen Orchideenfach erklärt und entsorgt wurde). Da es eh nichts Neues mehr gibt und weil deshalb nun belegbar am Anfang von früher alles felsenfest besser (weil neuer) war, braucht es gar keine Artikel mehr über Neuerscheinungen und kann stattdessen das Reissue, das Box-Set, die Reunion, als Comeback oder die neue CD alter Lieblinge in den Feuilletonhimmel gehoben werden. Mehr noch: Die blöde Anwendung von »Remake/Remodel« bietet vielen zudem die Möglichkeit, mit dem »ganzen Schei&szlig der Postmoderne « (Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus etc.) endlich abrechnen zu können. Alles falsch, alles Mist, an allem schuld. Das ??Echte?? setzt sich am Ende doch durch. Trari Derrida, die Post war da und kommt hoffentlich nie wieder. Im schlimmsten Fall kann Reynolds? »Retromania« so auch als Bestätigung all jener Boxset- und Sixties-Fans dienen, von denen er sich wortgewandt absetzen will.

Schlag die Theorie

Die »blöde Pop-Theorie« (überall Kontexte und Referenzen, aber »No Fun«) ist nur dann blöde, wenn sie blöde angewandt wird. Einfacher ausgedrückt: Zwischen Oasis und den Beatles, den White Stripes und Led Zeppelin wuchern kein Rhizome. Wohingegen die berühmte Andreas-Neumeister-Verknüpfung von Bob Will mit Jeff Mills ein exemplarisches Wuchern darstellt, das sich wie folgt ereignet: Bob Wills (Texas Western Swing) – Buddy Holly (ebenfalls Texas plus Begleitband mit Ex-Bob-Wills-Musikern) – Beatles (Buddy-Holly-Fans) – Funkadelic/ Parliament (»Sgt. Pepper« als Inspirationsquelle) – Jeff Mills (»Mothership Connection« reloaded). Erinnern wir uns einfach an Kodwo Eshuns Grundhypothese: Der »Sound of Now« kommt aus der vergangenen Zukunft und der zukünftigen Vergangenheit. Am Plattenspieler vorgeführt macht so was natürlich höllisch viel Spa&szlig.
Gerade Revivals bringen ja auch immer wieder das Illegitime, das von der offiziellen »Rock History« Verdrängte, Ignorierte, Verschwiegene zu Tage und brechen damit (spätestens seit HipHop) auch mit dem hegemonialen Kanon einer sich hauptsächlich als westliche Errungenschaft vorgestellten Popmusik. Psychedelic aus Afghanistan, Garagen- Punk aus Pakistan, Afro-Futurismus aus Afrika sind weniger Revivals (dazu hätte es einmal einen Hype geben müssen), noch verzweifeltes Suchen nach dem ganz Obskuren, sondern durchaus postkolonial zu lesende Praktiken mit all ihren politischen Implikationen (Stichwort Ex/Importe von Kultur). Ein notwendiges Rewriting und Resignifying von History eine Reaktualisierung von Diskursen. Andererseits: Wenn nach Post Punk plötzlich wieder die Sixties entdeckt wurden, ist das dann nicht das Sixties-Revival der 1980er (und weniger all die Synth- Wave-Trachtenverein-Acts) die eigentliche ??Schmuggelware?? des 1980er-Revivals? Und wurde beim 1980er-Revival-Bashing überhaupt schon einmal danach gefragt, ob es eine Verbindung zwischen den Yuppies der 1980er und den Ich-AGs der Nullerjahre gibt? Was macht das »Me-Age« so faszinierend für das von Reynolds diagnostizierte »Re-Age«? Auch Reynolds geht es im Prinzip um Pop über Pop. Kurz um Diskurs-Pop, den er zwar nicht so nennt, den er jedoch wieder haben will angesichts von Pop als Ersatzteillager, der quasi alte Autos auffrisiert, damit sie wieder fahren wie dereinst. Dekonstruktion, Remix und Mash-Up reduzieren sich dann darauf, einen schwarz-wei&szligen Karopullover aufzutrennen, um daraus einen wei&szlig-schwarzen Karopullover zu machen.

Loop Me

Retroschleifen als Möbiusschleifen gedacht, sehen dann schon anders aus. Analog zu Butler spricht Diedrichsen in »Eigenblutdoping« daher auch vom »nicht Vorhersehbaren« im Loop, vom Kopf-Ansto&szligen, Auf-den-Arsch-Fallen, Entgleisen, Ausrutschen, Blitzgnei&szligen: »Es ist dasselbe, mindestens zweimal von mir erlebt.« Und hier finden wir auch den Schlüssel zur Frage, warum manche Platten besser altern als andere. »Wer im Immergleichen des Loops etwas Neues erlebt, hat es mit einem viel härteren Neuen zu tun, als wer dies in einer Struktur erlebt, in der das Auftreten des Neuen vorgesehen ist.« Wie Klaus Theweleit ja einmal so schön gesagt hat, sind Schallplatten (oder CDs, MP3s) auch »Gedächtnisspeicher«. Während wir Musik abspielen, schreibt sich gleichsam auch immer etwas in sie hinein (die Bierflecken und Kratzer der Party, die Erinnerungen an hitzige Diskussionen, die dazu gelesenen Bücher, die peinlichsten Momente der Jugend, die Geisterstimmen, die uns später immer wieder heimsuchen werden, ein ??neues??, anderes Denken über Musik). Wir können also gar nicht mehr zurück, es sei denn, wir machen aus dem Gestern eine Art Schneekugel. Shake, Baby, Shake.

Simon Reynolds: »Retromania« London: Faber and Faber, 2011 (deutsch im Ventil Verlag 2012) 

Home / Kultur / Readable

Text
Didi Neidhart

Veröffentlichung
05.12.2011

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