Zeitlebens hat Hans Kohlseisen sich nach dem Kino gesehnt, bzw. nach dem Aufgehobensein in einem Kinosaal, denn als er im Dezember 1938 mit hundert anderen Kindern vom Wiener Westbahnhof aus nach England musste, »konnte ich nicht unter einen Kinosessel rutschen und warten, bis alles vorbei ist«. In Gmünd hatten sich die Jungen heimlich ins Kino geschmuggelt, um zu sehen, was den Erwachsenen eigentlich so alles an Inhalten vorbehalten war: »In Gmünd hatten sich meine Augen immer auf Hollywood gerichtet. Ich war Sänger und Spaßvogel, und ich liebte die Geheimnisse des Kinos. (…) In Gmünd war Hollywood greifbar nah gewesen, um ein paar Häuserecken und man war im Kino.« Der Atem blieb ihm weg, vor allem bei dem schwarzweißen Stummfilm »Titanic«. Mit dreizehn Jahren musste Kohlseisen unfreiwillig eine Reise antreten, die Flucht vor den Nationalsozialisten. »Und sie führte nicht nach Hollywood, sie führte später nach Holyhead, dem Fährhafen Richtung Irland.«
Hans Kohlseisen mit den Freundinnen Trude und Ditta beim Gmünder Wiesenfest (Anfang 1930er-Jahre). Foto: Familie Kohlseisen
Kohlseisen galt als »Halbjude«, seine Mutter Berta, eine später getaufte Jüdin, rettete ihn in einen Kindertransport holländischer Quäker. Die sehr selbstständige Mutter hatte sich ein Geschäft aufgebaut, in dem die Vertreter, die so genannten »Nachrichtenbringer« vorbeikamen. »Mit dieser triumphalen Erfahrung schien ihr kaum etwas unmöglich zu sein«, beurteilt Kohlseisen. Und fröhlich und doppeldeutig: »Meiner Mutter Stern glänzte.« Kohlseisen schreibt wie ein Junge, aufmüpfig und rebellisch, mit starken eigenen Meinungen, einer Art literarischer »Tatsachen-Sprache«. Er wollte nicht in diesen Zug. »Einmal gab es aber kein Glück mehr (…). Im Zug, das weiß jeder, gibt es keine Kinosessel.«
Schlimmste Strafe: Augen ausstechen
»Der Stadt war der Verstand geraubt«, schreibt Kohlseisen über Gmünd im April 1938. Der Junge litt zunehmend an Angst »vor Menschen, die vor nichts zurückschrecken, vor Verrückten, die es mit dem Tod leicht nahmen«. Die hellhörige Mutter übersiedelte mit den Kindern in ein »Umschulungslager« nach Stadlau, in dem Juden für die Landwirtschaft in Paraguay ausgebildet werden sollten – eine Chance »um wegzukommen aus dem Wahnsinn«. Hans war dort »der Hühnerfarm-Dreckreiniger«. Doch das Projekt, »ein Nicht-Ort, ein Ort des Wartens« zerschlug sich. Der junge Arbeiter Hermann Spiegel zuckte aus auf die Frage, ob er ein »Saujud« wäre. Der kleine Hans stand dabei, als Spiegel durch zwei Kopfschüsse getötet wurde, ähnlich wie zwei Schüler aus seiner alten Schule. Aus der Stadlauer Ûbersiedlungsaktion wurde aber nichts und die Verantwortlichen setzten sich mit dem übertragenen Geld ab. »Deshalb wollte ich damals, noch bevor ich an den Nazis jemals würde Rache üben können, diesen beiden Betrügern die Augen ausstechen.« Wohl eine typische Strafvariante von einem kinobegeisterten Jungen! In Stadlau lernte er den russischen Juden Erich Pleskoff kennen, der nach Amerika auswandern durfte und sich später Eric Pleskow nannte. Pleskow stieg in Hollywood zu einem erfolgreichen Filmproduzenten auf. 1948 besuchte er Berta Kohlseisen in Wien mit einem großen Lebensmittelpaket. Pleskow war damals Filmer für die Armee. »Das war eine Sensation. Er hatte uns nicht vergessen!«, schreibt Kohlseisen, der selber in der Verschriftlichung seines Lebens enorm viele Bilder verwendet, wie eine Art Film-Drehbuch. Im Oktober 2015 trafen sich die beiden das erste Mal wieder seit 1938. Pleskow ist Präsident des Wiener Filmfestivals Viennale.
Flucht vor der Flucht
In Lowestoft an der englischen Ostküste brach ein Damm und überflutete die Unterkunft der 500 Flüchtlingskinder. »Die Bewohner von Lowestoft wussten davon und brachten uns täglich ihre Wärmeflaschen«, schreibt Kohlseisen. Hunderte deutsche jüdische Kinder kamen an. »Wir dachten nur: Deutsche, das sind unsere Feinde. Wir haben sie gejagt und geschlagen, von Hass und Rachegefühlen getrieben. Unter ihnen war Heinrich Kissinger, der spätere amerikanische Außenminister Henry Kissinger.« Harte Partie! Typisches Geschwister-Trauma, man geht auf andere Kinder los, weil man die wahren Täter nicht erreichen kann.
Ûber Dovercourt ging es nach Bournemouth. Im Juli 1939 wird Hans mit zwei kleinen Kindern mit der Fähre nach Irland geschickt, wo ein Passagier, ein Tourist, im Vorbeigehen sagte: »Ûberall trifft man diese Saujuden!« Den trat er aber erfolgreich vors Schienbein.
Wirklich erstaunlich ist Kohlseisens Sprache, sehr entwickelt für einen Jungen, der früh solche Schocks erleben musste. Sein Sprachvermögen hätte auch stehen bleiben können: »Ich trug den vom Salzwasser gezeichneten Trachtenjanker wie ein Wundmal durch das fremde Land.« Leute sahen auf seine »Joppe, die wie eine bösartige Kruste an mir herunter hing.« Er landete ausgesetzt auf einer Bank irgendwo im hintersten Irland. »Die Wege wurden schmäler und führten in das Innere der Fremdheit. (…) Diese Landschaften verträgt man nur im Kino.« Hans landet bei einem Pfarrer, der säuft, und verwahrlost völlig, als dieser stirbt und der kleine Jude allein in der leeren Kirche in Mantua zurückbleibt. »Nur keine Bilder im Kopf aufsteigen lassen, dachte ich. (…) Manchmal dachte ich an Flucht. Aber Flucht vor der Flucht? Und wohin?«
Doch das Bedürfnis nach Leben siegte. Er zog nach Dublin, sein Lieblingslied wurde »Ain’t she sweet, walking down the street« von der Vorläufer-Band der Beatles, sein Lieblingsfilm »Gone with the wind«. »Solche Strophen treiben einen in die Welt hinaus. (…) Das beste Kino war das Nonstop-Kino. (…) Ich wusste, das Kino konnte mir so schnell keiner mehr wegnehmen. (…) Dort konnte ich meinen Kopf wieder in die Welt hinausstrecken, ohne mich der Gefahr auszusetzen, ihn zu verlieren.«
Margarete Affenzeller, Gabriele Anderl (Hg.):
»Und ich reise noch immer. Die Geschichte des Hans Kohlseisen zwischen Gmünd, Stadlau und Irland«.
Wien, Mandelbaum Verlag 2015
142 Seiten, 16,90 Euro