Dicht auf dicht folgen die Informationen. Dazu lauter neue und überraschende Bilder von Maler*innen, die man so »im Westen« noch nie gesehen hat. Ein schwarzer Ziegenbock vor einem Holzhäuschen. »Mein Heimatland, Mstyslav« nennt Abram Manewytsch 1906 das Bild, das auch von Marc Chagall stammen könnte. Ähnliche Tradition, ähnliche Bildmotive. 1917 wird Manewytsch einer der Gründungsprofessoren der Ukrainischen Kunstakademie. 1907 war er aus dem Gebiet des heutigen Belarus nach Kyjiw gezogen, um dort die städtische Kunstschule zu besuchen. Junge Künstler*innen aus unterschiedlichen progressiven Strömungen wenden sich der Abstrahierung zu, »die lebhafte, rhythmisch eingesetzte Farbpalette hat ihre Wurzeln in der volkstümlichen Stickerei und Töpferkunst«. El Lissitzky, der aus dem gleichen Dorf wie Chagall stammt, macht erst Illustrationen für jüdische Kinderbücher, später ungegenständliche Kompositionen. Nach dem Untergang des russischen Kaiserreiches 1917 erhält die Ukraine die Eigenstaatlichkeit. »Nationale Kunstrichtungen werden ins Leben gerufen«, steht an der Wand. Es gebe Einflüsse der Kunstrichtung Decadence, die gegen die Industrialisierung rebelliert. Spirituelle und ästhetische Aspekte der Kunst dominieren, wobei oft auf fantastische Motive zurückgegriffen wird. Abram Manewytsch wird 1942 in New York sterben.
Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg
1905 hatte die Revolution die absolute Monarchie im russischen Kaiserreich beendet. Das Verbot der ukrainischen Sprache wurde aufgehoben, sie wurde sogar als eigene Sprache anerkannt. Im Ersten Weltkrieg war die Ukraine das Schlachtfeld schlechthin, in den Kämpfen zwischen dem Russischen Kaiserreich und Österreich-Ungarn und Deutschland. Die erste Frau in Galizien, die eine Kunstausbildung erhielt, war Olena Kultschyzka. Sie studierte Tapisserie und Keramik, erst in Lviv, das in dieser Zeit das Kunstzentrum in der westukrainischen Provinz darstellt, dann in Wien an der Kunstgewerbeschule – dem heutigen MAK. Ganz eigen sind die Bilder in dieser Ausstellung, viele sind symbolisch aufgeladen, wie zum Beispiel ein (nicht kitschiges) Mädchen von Oleksa Nowakiwskyj, das sich die Augen reibt und das spirituelle Wiedererwachen der Ukraine bedeuten soll. Dahinter schwarze, ikonenhafte Gestalten. Eine Kiefer von Iwan Trusch, ein krumm gebeugter Baum, soll für das Leid der einsamen Menschenseele stehen, sieht aber hell und friedlich aus. Der Baum leuchtet richtig, in alles Pastellfarben.
Umbau auf Produktionsdesign
Nach fast fünf Jahren Krieg besiegten die Bolschewiken 1921 die ukrainischen Streitkräfte und installierten die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik mit dem derzeit so umkämpften und zerstörten Charkiw als Hauptstadt. »Es soll eine neue kulturelle Identität geschaffen werden«, steht an der Wand. Die Reihenfolge der Räume im Unteren Belvedere folgt genau der zeitlichen Chronik, mehr künstlerische Freiheit ist momentan kuratorisch noch nicht drin. Mitte der 1920er-Jahre wird die Ukrainische Kunstakademie in Kyjiw in Folge auf Produktionsdesign umgebaut. So bekannte Künstler wie Wladimir Tatlin oder Kasymyr Malewytsch unterrichten dort. Die meisten Künstler*innen in dieser Ausstellung werden nicht alt, sie sterben an Tuberkulose oder es steht nicht dabei, warum. Zum Teil fallen sie stalinistischen Säuberungen zum Opfer, wie zum Beispiel Mykola Kasperowytsch, dessen Enten in seinem Gemälde auf blauen Zickzacklinien schwimmen. In den 1930er-Jahren wird »der bürgerliche ukrainische Nationalismus« zum Hauptfeind erklärt. Das Bild »Pogrom« (1926) von Manuil Shechtman wird im Jahre 1930 auf der Biennale gezeigt. »Während des Krieges gab es starke Aggressionen gegen Juden«, steht dabei. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion schließt Shechtman sich einer Partisaneneinheit an und fällt 1941.
Die Ausstellung »In the Eye of the Storm. Modernismen in der Ukraine« war bis 24. Juni 2024 im Unteren Belvedere zu sehen. Der Katalog ist noch erhältlich.