Wie zeichnet man die Bilder einer Abwesenheit? Wie schreibt man eine Geschichte voller Leerstellen? Und wie findet man sich in der Fremde, wenn die Erinnerung keine Anhaltspunkte gibt? Diese und viele andere Fragen ergeben sich, wenn sich die ruhigen und doch sehr pointierten Bilder, die Sara Fattahi einem in »Chaos« eröffnet, einmal zu einer Einheit versponnen haben. Die Geschichtsstränge dreier Frauen, die den Krieg in ihrer syrischen Heimat immer irgendwo bei sich tragen, bilden die Unbekannte, die dem Publikum das Schicksal unzähliger anderer Menschen eröffnet. Die Abwesenheit des Krieges in Fattahis feinfühliger Collage macht dessen Präsenz umso zugänglicher und zeigt die offenen Wunden seiner Vertriebenen.
Das Vergessen in der Fremde
Heba ist ins Exil nach Schweden gegangen. Die Grundierung ihrer Geschichte sind die Bilder, die sie malt. Die Farben sind jedoch die Worte, die sie spricht: Sie ist die Hauptstimme des Films. Die Erzählung ihrer Flucht aus Damaskus, die Annäherung einer Erinnerung ihres Bruders, die Leerstellen aufzeigt, und ihre psychische Kondition, die sie in Schweden erst einmal ins Krankenhaus brachten – das sind die Momente, die aufzeigen, wie sich das permanente Nicht-fassen-Können der eigenen Person gegen sich selbst richtet. Die Erinnerungen sind holprig, zerrissen und voller Lücken. Fattahi untermalt die Sequenzen mit Heba durch ihre exzessive Arbeit an ihren Bildern, die scheinbar die Zerstreuung in ihrer Isolation auffangen. Heba beruft sich auf ein Vergessen, und findet sich dadurch immer wieder in einem Vakuum der Abwesenheit. »They violated everthing in us, even our memories. So, if something isn’t there anymore, they can’t take it away.«
Die Fremde in der Heimat
Demgegenüber begegnen wir Raja. Sie hat Damaskus nie verlassen. Und dennoch hat auch sie sich in eine Fremde begeben. Jeden Tag aufs Neue legt sie frisches Gewand für ihren ermordeten Sohn auf sein Bett. Im Festhalten an seiner Person füllt sie die Leere mit einer Erinnerung, die von Wut und Stille geprägt ist. Raja spricht kaum, die Sequenzen sind vom Verschwundensein ihres Sohnes geprägt. Doch wenn sie spricht, dann ist das Ventil jener wiederkehrenden Erinnerung ungehemmt: »There’s a lioness inside me, waiting, hungry for flesh.« Fattahi folgt hier einer Bildpoesie, die, ganz anders als bei Heba, nicht ein inneres Getriebensein reflektiert, sondern eher die Äußerlichkeit einer Isolation festhält. Als Zuschauer*in wird man beklemmt von der Enge dieser stillen Erinnerung.
Die Unbekannte
Die Unbekannte in Wien, die in ihrer Zerstreuung zu verschwinden droht, ist laut Fattahi ein Alter Ego ihrer selbst. Die einzige Schauspielerin des Filmes, Jaschka Lämmert, wandelt durch Wien, ohne jedoch ein bestimmtes Ziel zu haben. Auch kommt Fattahi hier ohne eine Stimme aus, sondern lässt Ingeborg Bachmann für sich sprechen, die im selben Zug auch eine Verbindung zu den anderen zwei Schicksalen erzeugt. »Über den Krieg kann jeder etwas schreiben und der Krieg ist immer schrecklich. Aber über den Frieden etwas zu schreiben, über das, was wir Frieden nennen, denn das ist der Krieg […]« Gleichzeitig zur Verlorenheit jener Doppelgängerin Fattahis evoziert die Anonymität der Figur ebenso die Anwesenheit all der in diesem Film nicht erzählten Schicksale dieses Krieges als Kontrast zur permanent anwesenden Abwesenheit. »[…] Der Krieg, der wirkliche Krieg, ist nur die Explosion dieses Krieges, der der Frieden ist.«
Der Krieg ist nur der Ausgangspunkt dieses so bildermächtigen Films, den Sara Fattahi selbst im Übrigen als die Fortsetzung ihres Debüt-Films »Coma« beschreibt. Doch der Endpunkt ist ein Vakuum, das gefüllt werden will. »In ›Chaos‹ my friend takes me to the forest at the end of filming. Interestingly, the forest is a space that is open and not open at the same time, since – as my friend put it – you can easily get lost in a forest.«
Österreichischer Kinostart ist der 4. Oktober 2019.