Ausschnitt aus dem Songbook zum Album »My New Music« von J. Jasmine © Unseen Worlds
Ausschnitt aus dem Songbook zum Album »My New Music« von J. Jasmine © Unseen Worlds

Identitätsfindung wider die Konvention

Das US-amerikanische Label Unseen Worlds veröffentlicht 40 Jahre nach dem stillen Erscheinen von J. Jasmines »My New Music« die Neuauflage des großartigen Debutalbums über eine emanzipatorische Selbstfindung.

Jacqueline Humbert und David Rosenboom produzierten in den späten 1970er-Jahren eine emanzipatorische Selbstfindung. Getragen von Zweifeln, Verrat und dem existenziellen Misstrauen gegenüber konventionellen Strukturen entwickelte sich ein äußerst interessantes, zur damaligen Zeit aber völlig unbeachtetes Album, das sich nie kategorisieren ließ und heute aktueller denn je erscheint. Auf der Suche nach der eigenen Identität muss man mit Widerstand rechnen. Schwierig wird es vor allem dann, wenn sich ein Weg abzeichnet, der sich so gar nicht mit der sakrosankten Grundstruktur der Natur vereinbaren lässt. Im Kampf gegen die wertkonservative Konvention mag die Kunst ein probates Mittel darstellen, um die eigenen Bedürfnisse zu verfolgen, sie zu überspitzen und wenn auch nicht in einem geschützten, so aber doch in einem liberaleren Rahmen auszuleben. Vielleicht war das also auch der Grund, wieso J. Jasmine ihr Album »My New Music« 1978 nur für die BesucherInnen des Ann Arbor Film Festivals im Nordosten der USA veröffentlichte. Das Label Unseen Worlds übernimmt die längst überfällige Aufgabe, dieses großartige Werk neu aufzulegen.

Aus Jacqueline Humbert wird J. Jasmine
J. Jasmine ist das Alter Ego von Jacqueline Humbert. Sie studierte in den 1970ern am Institut für experimentelle Ästhetik in Toronto, das von David Rosenboom begründet wurde. Dieser wiederum arbeitete zuvor mit Elektronik-Pionier Morton Subotnick in dessen legendenumwobenen Bleeker Street Studio in New York und setzte sich Anfang der 1970er-Jahre mit neuartigen Methoden des Biofeedbacks auseinander. Er nutzte die Entwicklung neurologischer Technologien, um aufgezeichnete Gehirnwellen hörbar zu machen. 1975 erschien mit »Brainwave Music« ein archetypisches Album, das die damaligen Genregrenzen der noch in der Entstehung befindenden elektronischen Musik weitgehend verschob und sich auch heute noch zeitlos modern gibt. Humbert, als Studentin von der Arbeit Rosenbooms offenbar nachhaltig beeindruckt, sah in ihm eine Art Seelenverwandten und bemühte sich um eine Zusammenarbeit. Unter dem Namen Maple Sugar entstanden so erste gemeinsame Werke, die unter anderem auch von George Manupelli, dem Gründer des 1963 ins Leben gerufenen Ann Arbor Film Festivals, begleitet wurden. Experimentiert wurde mit allem, was damals neu und aufregend war. Ein beständiger Rausch inmitten multimedialer Techniken und musikalischer Formen – ungehört sollte es sein, unkonventionell auf jeden Fall. Kunst, die sich nicht zuordnen lässt, die sich jeder Bestimmung entzieht und gerade deswegen so befreiend ist. Maple Sugar nahm damit in vielerlei Hinsicht jene Einstellung vorweg, die Humbert als J. Jasmine später in ihren Texten widerspiegelte: der hoffnungsvolle Glaube, dass die eigenen Fantasien und Experimente dazu beitragen können, die persönliche Freiheit auf andere auszuweiten.

Die Vorbereitungen zum Album »My New Music« stellten die Weiterführung einer kreativ umso ergiebigeren, wenn auch kommerziell völlig unbeachteten Zusammenarbeit zwischen Humbert und Rosenboom dar. Sie, inzwischen stark mit den Themen der Zweiten Frauenbewegung verbunden, identifizierte sich in ihren Texten fast ausschließlich mit dem fiktiven, wohl aber in manchen Zügen durchaus autobiographisch nachempfundenen Charakter J. Jasmine. Rosenboom wiederum war versucht, ihre textlichen Vorlagen in eine musikalische Umgebung einzubetten. 1977 – beide gelangten im Zuge eines der Weiterbildung dienenden Sabbaticals an die Westküste der USA – bezogen sie in Don Buchlas Kellerappartement eine vorübergehende Bleibe und suchten nach weiteren Möglichkeiten, ihr Album zu produzieren. Aufgenommen wurde schließlich gemeinsam mit den in der Zwischenzeit dazugestoßenen Performance-Künstlern Sam Ashley und David Behrman am Center for Contemporary Music at Mills College in San Francisco.

Um die Tragweite ihres kreativen Schaffens zu verstehen, muss man sich den zeitlichen Kontext vor Augen führen. 1977, zwei Jahre nachdem Patti Smith mit »Horses« ihr ganz persönliches und doch wunderbar politisches Manifest für eine Unordnung der Dinge veröffentlichte, emanzipierte sich Jacqueline Humbert selbst und feierte mit »My New Music« eine Revolution im kleinen Kreis vor ein paar wenigen Filmschaffenden. Sie war die vermeintlich ungehörte Stimme einer Generation, die die Unterdrückung des Patriarchats einmal mehr offenlegte, sich nicht mehr einordnen wollte in dieses hegemonial-chauvinistische System und dagegen – mit ihren Mitteln – auf poetisch-politische Weise ankämpfte. Auf dem ikonischen Cover der LP ist sie selbst zu sehen. Lässig nach hinten gelehnt, in einem übergroßen Pfauensessel sitzend und mit gespreizten Beinen, zwischen denen sie ein Pferdefoto im Stile Eadweard Muybridge hält. Das mag natürlich ein Zufall sein. Viel Fantasie braucht es allerdings nicht, um sich darin eine indirekte Hommage an Patti Smiths zuvor erwähntes Debutalbum auszumalen. An deren fulminantem Erfolg konnte J. Jasmine nicht anknüpfen. Tatsächlich war die HörerInnenschaft bei der Veröffentlichung des Albums 1978 sogar verschwindend gering. »My New Music« erschien exklusiv für TeilnehmerInnen des Ann Arbor Film Festivals, ohne jemals an die breite Öffentlichkeit zu gelangen. Das großartig illustrierte, eigentlich als Beilage geplante Songbook verschwand währenddessen gänzlich. Es wurde zwar gedruckt, der zuständige Händler ging aber wenig später Pleite. Die Beilage verschwand im Staub der Archive. Mehr als 40 Jahre später soll sich das nun mit der Neuauflage auf dem US-Label Unseen Worlds ändern.

J. Jasmine auf dem Cover von »My New Music« © Unseen Worlds

Die ungehörte Stimme einer Generation
»My New Music« ist stilistisch nicht fassbar, niemals zuzuordnen und wahrscheinlich gerade deswegen auch nie mit den starren Regeln der Musikindustrie vereinbar gewesen. Es wird jedenfalls ein weiter Bogen gespannt, auf dem aufregend dahintrabende Musical-Anlehnungen, tieftrauriger Countryfolk und klampfender Ragtime genauso zu hören sind wie das Schrammeln von abgewetzten Violinsaiten und das im Western-Saloon über die Jahre verkommene Honky-Tonk-Piano. Das alles wirkt wie eine Suche nach einer eigenen, vielleicht neuen, zumindest aber gänzlich anderen Identität, und versprüht den unmittelbaren Drang nach der Erkundung von Alternativen. Das Hinterfragen von tradierten Geschlechterrollen wird von Jasmine daher genauso besungen wie die Gewissheit, dass sich daran noch immer nichts geändert hat. »There’s a woman in me / who’s achin’ to be / a little less she and a lot more of he«, singt sie in dem Titelstück »Androgyny«, das dann im Chorus den optimistischen Ausblick wagt: »Androgyny / it’s happenig to me / it’s just one more thing that I’ll use to be free.« Das Ausprobieren verschiedenster Stile ist wie das Spielen mit der eigenen Identität. Eine ständige Weiterentwicklung, kein Stillstand, immer volle Fahrt nach vorne, als säße Cindy Sherman taktangebend daneben. »Broke and Blue«, eine mehr als deutliche Hommage an die herzschmerzstillende Wirkung von bestimmten Destillaten, ergänzt den thematischen Rahmen um jenes der unglücklichen Liebe. »I’m painting a picture that’s colors of blue / I’m painting a picture that’s finally true (…) / it’s a picture of me without you.«

»Wild About The Lady« beginnt zunächst mit einem ausgedehnten Klavier-Ostinato und dem rhythmischen Zupfen eines Mbira Lamellophon. Im Hintergrund schwirren Humberts Stimmfetzen durch das Panorama. »I think I love that lady over there / the one with the platinum hair«, ist der Anker innerhalb beständiger Motivwechsel, die kurz von primitiven Drum-Computer-Sequenzen angetrieben werden, nur um später nahtlos ineinander überzugehen: »There is no need for roles / there’s a merging of souls«. Dieser Ausflug in eine Welt queerer Genderrollen und non-binärer Geschlechterbeziehungen wird mit dem nächsten Stück abrupt beendet. Die verhallte Stimme eines Stadionsprechers ist zu hören. Das Klavier, mit Reißzwecken präpariert, wird im Hintergrund nur traurig leise vom Fiedeln einer Violine begleitet. »Rented Car, Painted Lady, Borrowed Time« illustriert die untergehende Abendsonne und das Ende einer Beziehung. Der einstige Ehemann, ein dreister Betrüger, spricht in ruhiger Stimme zum Publikum: »It’s a sad story really / when you give it some thought.«

Beendete Beziehungen, gebrochene Herzen, ein Neuanfang muss her. »I need more than a man / I need me, need to see who I am«, nimmt auf das einmal mehr ausgenutzte Vertrauen Bezug, ohne sich grundlos in Selbstmitleid zu verlieren. Die Stimmung ist fröhlich und beinahe ausgelassen von der neuerlangten Freiheit. »Strong Arms« hat deswegen nichts mit dem sehnsüchtigen Warten auf jemanden zu tun, der es ohnehin nicht wert ist. Vielmehr kann die Nummer als ein Aufruf zum kollektiven Empowerment gedeutet werden. Kein rachsüchtiges Verhalten, sondern nur Liebe und die Gewissheit, dass sich alles irgendwann wieder zum Besseren wenden wird. Das daran anschließende Intermezzo, das Instrumentalstück »How Much Better if Plymouth Rock Had Landed on the Pilgrims« wurde von David Rosenboom bereits 1968 komponiert. Klavier, Hammondorgel und Trompeten vermischen sich darauf im endlosen Feedback der Delay-Fahnen. Sie erzeugen ein erhabenes Gefühl. Sanft und zärtlich schmiegen sie sich an, geben Halt in einer Zeit, die niemals leicht ist. Verstärkt durch den endgültigen, schriftlichen Abschied (»Goodbye was the message / Grand Canyon was the view«) herrscht nun Aufbruchstimmung. »Clear Light« gibt Antworten auf bisher nicht gestellte Fragen. Im Rumba-Rhythmus grooven wir gemeinsam mit Jasmine in neue, aufregende, weil ungezähmt wilde Zeiten. »’cause you can shine, sister, shine / it’s your time, sister, time.«

Humbert, Rosenboom, Ashley und Behrman (v. l. n. r.) posieren vor einem alten Studebaker © Unseen Worlds

Identität als Freiheit
Das Album endet mit zwei Stücken, die den selbstsicheren Epilog zu einer lang vorbereiteten Geschichte erzählen. »Environmental Collage / Younger Lady«, zu Beginn ein Wirrwarr aus Stimmen, fein zusammengetragen von Rosenboom und in einer Hotellobby aufgenommen, geht in die direkte Ansprache von J. Jasmine über. Sie redet direkt zu ihrem Publikum – selbstsicher und stolz stellt man sie sich vor. Sie hat die Freiheit erlangt, von der sie am Anfang des Albums sprach. »’cause I like livin my life this way« und niemand soll daran zweifeln. In balladesker Manier (»Oasis in the Air«) schließt sich ein emotionaler Kreis. J. Jasmine hat ihre Ketten abgeworfen. Sie ist frei.

»My New Music« ist durchzogen von der Stilistik längst vergessener Country-Balladen und der aufpeitschenden Dramaturgie einhelliger Musical-Songs über Liebe und Vertrauen, Enttäuschung und Verlust – gepaart mit dem emanzipatorischen Ideal der Frauenbewegung und einer bekräftigenden Geschichte, von der nach zehn Stücken und insgesamt 37 Minuten fast alles gesagt ist. Das Label Unseen Worlds präsentiert nun die Neuauflage eines Albums, das seine Bestimmtheit in dieser Welt nie verloren hat. Zusammen mit den Originaldrucken des nie veröffentlichten Songbooks stellt »My New Music« ein großartiges Stück Zeitgeschichte dar. Aktueller und dringlicher denn je. Ein fantastisch aufrichtiges Album!

Link: http://www.unseenworlds.com

Home / Musik / Artikel

Text
Christoph Benkeser

Veröffentlichung
26.02.2018

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