Das hat dieser Welt am Abgrund noch gefehlt. Die EP »Schande« der Band Vienna Rest in Peace, die sich nach dem großartigen Longplayer »Album für die Jugend« die Schändung des liebevollen Menschlichen zum Thema macht. Schwermut, aber auch enthusiastische Inbrunst des Dagegenhaltens, der vielleicht die Verzweiflung ob der Ohnmacht gegenüber disruptiven Entwicklungen innewohnt, aber auch Gewitztheit und Galgenhumor machen sich in ihren Songs auf »Schande« breit. Und weil wir bei den Ursachen sind, welche die multiplen Krisen bewirken, sei zunächst bei der Geopolitik angedockt. Es gibt einen Grund, sich für die Gunstlage in EU-Europa zu schämen.
Krisenauslöser Spätkapitalismus
Ausgangspunkt des Konzept-Minialbums ist der Spätkapitalismus, der nach dem Ende der UdSSR keinen Gegner mehr hatte und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und vielen Teilen Osteuropas den Oligarchismus brachte. Mit Geheimdienstler Putin als zunächst erhofftem Heilsbringer ist dem Westen ein fataler Feind erwachsen, verbündet mit Iran, Nordkorea und China, wo die Neocons und Neolibs der westlichen Welt naiv irrglaubten, dass »Wandel durch Handel« eine autokratische Diktatur ändern würde. Die wahre Schande ist, dass die Verursacher dieser tragischen Weltlage infolge ihrer Gier in ihren noch »Demokratien« genannten Staaten den Faschismus heraufbeschwören. Überreiche werden nicht besteuert und nicht reguliert und die korrumpierte Politik erzählt das Narrativ, dass etwa die Migranten schuld daran seien, dass nicht mehr genügend Geld für die Finanzierung von Bildungs-, Gesundheitssystem usw. vorhanden ist. Wenn Staaten wie Firmen geführt werden (allzu oft von millionenschweren Investoren oder deren Strohmännern), glauben die abgehobenen Eliten gar, dass die Staaten ihnen gehören. Ein Phänomen des Spätkapitalismus ist, dass niemand Verantwortung übernimmt. Politiker treten ob ihrer Verfehlungen nicht mehr zurück, sondern gehen Koalitionen ein, wie etwa Netanjahu in Israel mit religiösen Fundamentalisten. Gewählt wird, wer die Bürger, sofern sie überhaupt wählen dürfen, am perfidesten manipuliert. Populisten, die Kritiker und Minderheiten ausschließen und verfolgen wollen, propagieren eine Dehumanisierung der vermeintlichen Sündenböcke, was rechtsextreme Einstellungen befördert und legitimiert.
Kein Dialekt-Pop
So, genug der weltpolitischen Suada. Heruntergebrochen auf Österreich hält nicht nur Didi Neidhart, Ex-Chefredakteur von skug, »den meisten Dialekt-Pop eher für ein Symptom eines Rechtsrucks, zumal sich die meisten dessen auch gar nicht bewusst sind«. Die in Hochsprache singenden Vienna Rest in Peace fallen somit keineswegs in diese Kategorie. »Fall nicht auf die Polierten rein«, heißt es in »Die Polierten« vom 2022er-Album. Dieses Protestlied meint nicht die gewählten Volksvertreter, sondern alle, somit auch die normalen Bürger, die sich arrangieren und nur engagieren, wenn es sie selber weiterbringt. Sogleich hebt Fritz Ostermayer, ein großer Mentor der Band, gemeinsam mit Vienna Rest in Peace im Opener mit dem Lied der »Schande« zur schaurigen Selbstbeschau an. Es handelt sich dabei um Ostermayers brillante Überschreibung des Songs »Shameless« von Herbst in Peking, einer DDR-Rockband um die Wendezeit, als es noch Hoffnung für einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus gab, der nicht ins disruptive Desaster geführt hätte. Das fröhlich-zynische »Ai Ai Ai Ai« zwischen den Strophenblöcken macht Gänsehaut!
Schande über die Künstler und ihre Scheißmalerei
Schäm dich auch, Konzeptkunst, für deine Klugscheißerei
Schimpf und Schande über Schönheit und dem Schiachen als Kontrast
Schäme dich in deinen Polster, schäm dich, wenn du keinen hast
Schämt euch alle in Stille oder brüllt die Scham heraus
Schämt euch unter der Tuchent oder weckt das ganze Haus
Bezauberndes Duett »Schandenzählung«
Eingangs ist es nicht die melancholische Note, welche die großteils aus Musikern der Band Aber Das Leben Lebt hervorgegangene Band auszeichnet, sondern das schauderhafte Vergnügen, mit dem Fritz Ostermayer dem menschlichen Egoismus die Leviten liest. Darauf folgt mit »Ich zähle meine Schanden«, ein wunderschönes Duett von Wolfgang Wiesbauer mit Marilies Jagsch, die seit 2019 Bandmitglied ist. Welch trauriges Fazit einer balladesk-schwermütig angelegten Kummernummer.
Und acht weil du nicht stark genug
für die anerkannte gute Sache kämpfst
Neuntens weil du nicht erkennst
dass du für die Bühne längst
viel zu alt bist (…)
Ich zähle täglich meine Schanden
Sie akkumulieren sich und definieren mich
Fremdschämen und Hinterfragen
Im dritten Song »Der Mensch stammt von meiner Mutter ab«, dem zweiten Lied der Band mit Fritz Ostermayer auf dieser EP, geht es dann ums Fremdschämen und irgendwie erinnert der Klang, der den poetischen Lyrics unterlegt ist, an das Album »An American Prayer – Jim Morrison« (1978), wo die Doors den lyrischen Nachlass ihres Sängers posthum edel vertonten. Hier die Essenz daraus:
Fremdscham ist billig und kommt vor dem Fall
Die Messer zu schärfen, heißt Ehre abschneiden
Der Mensch stammt von meiner Mutter ab
Drum muss er leiden
Forward zu Lied Nummer vier: In »Wirklich gibt« findet sich die Hinterfragung dessen, wohin die Menschheit gedriftet ist. Wenn Zahlen regieren, dann könnte es einst sein, dass es auch keine Archäologen mehr geben wird …
Ist zwischen den Einsern und den Nullern ein Rest
der beim Ausrechnen alle Maschinen abstürzen lässt
wo bleibt der Beweis
dass es uns
wirklich gibt
»Tour der Schande«
Es gibt zumindest diesen österreichischen Pop-Act, der mit Text und Klangfärbung den Soundtrack für diese dystopischen Zeiten, worin geneigte Rezipient*innen sich gut selber finden können, bereitstellt. Vienna Rest in Peace waren mit ihrem denkwürdigen Konzert beim Popfest 2023 im Künstlerhauskino längst auf der Höhe der Zeit. Deshalb seien alle Musiker*innen genannt, die dieses Konzentrat an Bandgefüge so speziell machen: Seit 2017 agieren Vienna Rest in Peace ohne Unterbrechung – das war auch die letzte Besetzung von Aber das Leben Lebt – mit folgenden Bandmitgliedern: Wolfgang Wiesbauer (Gesang und Gitarre), Florian Emerstorfer (Bass), Ralph Wakolbinger (Schlagzeug), Martin Wiesbauer (Melodika, Ziehharmonika, Keyboard, Piano). Eine wesentliche Ergänzung sind/waren Marilies Jagsch (Gesang und Gitarre von 2019 bis 2024) und Ronja Klug (Gesang und Synth, Livemusikerin auf der Tour 2023). Nicht zu vergessen: Bei allen Vienna Rest in Peace Alben ist Ex-Kreisky-Member Gregor Tischberger entweder als inoffizielles Bandmitglied oder als Produzent beteiligt.
Der Herbst ist die richtige Jahreszeit, Schwermut zu zelebrieren. »Schande« gibt es nicht nur als Tonträger, sondern um Allerheiligen und Allerseelen herum leibhaftig: Vienna Rest in Peace absolvieren mit Fritz Ostermayer, der auch eigene Texte lesen wird, die »Tour der Schande«. Leider zum allerletzten Mal mit Marilies Jagsch. Der Trauerzug wird in folgenden Venues Halt machen:
31. Oktober 2024: Dornbirn, Spielboden
1. November 2024: Klagenfurt, Hafenstadt
2. November 2024: Weyer, Bertholdsaal
11.November 2024: Wien, Stadtsaal