»Die Welt ist uns zerbrochen«, so steht es im Programmheft des diesjährigen Heart of Noise Festivals, das von 7. bis 9. Juni in Innsbruck stattgefunden hat. Ein Satz, der sich als Lüge verkleidet hat. Zerbrochen scheint in Innsbruck nämlich wenig, im Gegenteil: Vor dem neuen Festivalzentrum, dem erst im letzten Jahr eröffneten schicken Haus der Musik, tut sich eine Kulisse auf, bei der die heimische Festivalszene neidisch nach Innsbruck blinzelt. Fiaker trotten an der Hofburg vorbei, die Alpen wachsen kilometerhoch aus dem Boden, wirken so lebendig, als hätte sie Bob Ross persönlich in die Landschaft gepinselt, und chinesische Tourist*innengruppen schlängen sich an Lodenhüten vorbei zum Goldenen Dachl. Über all dem schwebt Musik, die das Festival für drei Tage in die 130.000-Einwohner*innenstadt am Inn bringt. Wer zerbricht hier also was? Die Innsbrucker Welt mit kaiserlichem Ambiente den subversiven Musikgeschmack – oder doch viel eher umgekehrt? Antworten darf man als Versatzstücke über drei Tage verteilt am Heart of Noise finden.
Dabei hat es den Auftakt auf dem zum Para Noise Garden umgestalteten Vorplatz des Hauses der Musik fast verweht. Die wirrwilde Brandrede von Michaela Senn zur Lage der Nation und ihrer Kultur, mit wenig subtilen Querverweisen auf eine »bsoffene Gschicht auf Ibiza«, bläst der Wind von der gelben Bühneninsel weit über den Platz hinweg. Blätter rascheln, Frisuren versagen. Und die angefachte Wut aus der Rede startet das überbordende Science-Fiction-Epos der später nach drinnen wandernden 2000-jährigen Oper »AkhtamarII«, die dort von 17 Protagonist*innen mit fluoreszierenden Kostümen und verzerrten Stimmen auf die mit übergroßen Blob-Konstruktionen dekorierte Bühne gebracht wird. Zuvor klöppelt aber noch Andrea Belfi wie eine Spinne am Schlagzeug zu eigenen Kompositionen aus der Elektrokiste, lässt Rhythmen entstehen, von denen wir nicht wussten, dass sie existierten – zerbricht alles und baut es neu auf. Ein musikalischer Turmbau zu Innsbruck, der am ersten Festivaltag beginnt und sich über die kommende Tage aufzieht.
Immerhin 50 Meter in die Höhe geht es unter freiem Himmel am Samstag. Ambitionierte Freigeister sporteln die 13 Stockwerke des Pema Towers zu Fuß nach oben, die Gemütlichen unter uns nehmen den Lift und schlürfen bereits das zweite Cola, als andere noch an ihrem Drehwurm laborieren. Musikalisch lässt sich das unter der Begleitung des sympathisch-wuscheligen Ben Vince tun, der neben dem Laptop zum Glück nicht auf sein Saxophon vergessen hat. Aus letzterem quetscht er einen Klangkosmos aus blechgeblasener Schönheit, nimmt einzelne Spuren am Laptop auf und stapelt sie zu einem neuen Ganzen zusammen, sodass man nicht so richtig weiß, ob man die Augen jetzt schließen oder doch über das Alpenpanorama wandern lassen soll. Welche Entscheidung man auch trifft, mit geordneten Gedanken lässt es sich besser tanzen. Das hat sich auch Kornelia Binicewicz gedacht, die psychedelische Schätze aus den türkischen 1960ern auspackt und den Groove aus 10-Liter-Fässern verschenkt. Prost!
Drüben beim Haus der Musik hüllt sich derweil die Tim-Hecker-Kumpanin Kara-Lis Coverdale nicht nur modisch in einen Teppich, sondern breitet ihn auch klanglich aus. Fein gesponnene Panoramamusik, die Maja Osojnik kurz darauf wieder auseinanderdröselt, indem sie – huargh! – die Beats verzerrt über ihre Drei-Oktaven-Stimme zerfleddern lässt. Stimmlich kommt ihr dabei Thomas Ankersmit nicht in die Quere. Der niederländische Musiker beschäftigt sich lieber mit psychoakustischen Phänomenen und schraubt mit Synthesizern an deren Nachahmung herum. Konkret heißt das: zersägte Hirne, geboxte Bäuche und blutende Ohren – Ankersmit geht mit Sound an die Schmerzgrenze. Ein Schmerz, der so stimulierend wie fünf dreifache Espressi reinkickt. Und das alles ohne kruden Masochismus. Blank polierte Technologie an den Rändern der sonischen Möglichkeiten.
Ebensolchen unterschiedlichsten Ausformungen der Ambient-Kunst widmete der mittlerweile 86-jährige Phil Niblock sein Leben. Backstage schlurft der ergraute Maestro schon am Nachmittag herum, lauscht anderen Aufführungen, ehe er im Blackout-dunklen Saal im Haus der Musik selbst vor der Bühne Platz nimmt, den Laptop hochklappt, ein Video startet – und zuerst Kollegen Ankersmit und später die britische Cellistin Lucy Railton seine Werke interpretieren lässt. Wer sich auf die warm saturierte Aufnahme aus einem Thailand der 1970er konzentriert, sich vom Schnüren der Strohpakete und dem Schneiden von Reisnudeln einnehmen lässt, vergisst irgendwann, dass nebenbei noch Musik läuft. Die ist zwar noch da, aber eben auch nicht. Die Auflösung der akustischen Kunst in visueller Kontemplation. Ein Fest, bei dem sich Drone-Afficionados die verschwitzten Finger abschlecken.
Viel zu tanzen gibt es freilich und entgegen dem Festivalmotto »Don’t Stop The Dance« bei Niblocks Musik nicht. Wo das Tanzen nicht beginnt, kann dementsprechend schlecht damit aufgehört werden. Ein gutes Festivalprogramm lässt sich aber nicht nur am geschlechterausgeglichenem Booking und der genreübergreifenden Dimension, sondern auch an der richtigen Programmierung der Acts im Line-up ablesen. Das Heart of Noise um Festivalleiter Chris Koubek stellt sich in dieser Hinsicht bemerkenswert breit auf – streut von Ambient über Gurgelgesang bis Hardcore und südamerikanische Cumbia so ziemlich alles ein, was jemals aus Verstärkertürmen gepustet wurde – und darf das Publikum damit auf liebenswerte Weise vor den Kopf stoßen. Die britische Gazelle Twin trampelt gerade deswegen nach längerer Auftrittspause in Österreich wieder mit ohrenbetäubendem Krach auf den semantischen Überresten des UK herum, während sie mit aggressiven Rhythmen die inneren Ambient-Dämonen austreibt und schließlich an Jungle- und Hardcore-Koryphäe Christoph de Babalon übergibt. Krach, bumm, schwurbel, quetsch. Das Innsbrucker Publikum hat noch lange nicht genug.
Der sonntägliche Familienausflug fällt zumindest während des Heart of Noise Festivals flach – raus in die Natur zieht es wegen dem Kaiserwetter trotzdem. Die als »TRAMatic Ride« zum Ambient-Zug umgebaute Straßenbahn cruist zu der live abgemischten Soundinstallation der georgischen Künstlerin Vo Ezn durch die Innsbrucker Umgebung, vorbei an Kühen und der Bergiselschanze, hinauf nach Mutters an den Rand des Stubaitals. Kabinenparty ohne Badehose, dafür mit einem Wow-bist-du-deppert-Ausblick über ganz Innsbruck – und auf dem Weg ins Tal scheppert dann der antreibende Atmo-Techno von Zanshin, der einen Hälfte von Ogris Debris, aus den Boxen.
Wenn Tourist*innengruppen verstörte Blicke austauschen, Passant*innen die Handys zücken und kleine Kinder um die Boxen tänzeln, während eine Schar von Menschen am Vorplatz im Gras liegt und zuhört, hat man als Festivalveranstaltung alles richtig gemacht. G.A.M.S., das gerade erst gegründete Duo um Guido Möbius und Allzweckschlagzeuger Andi Stecher, spielt sich in dieser entspannten Stimmung genauso in rauschartige Zustände wie DJ Raph, der mit seinem zweistündigen DJ-Set den kenianischen Underground auf den einstigen K&K-Vorplatz nach Innsbruck beamt.
Heart of Noise ist aber eben auch, wenn die ungarische Black-Metal-Kombo neben den peruanischen Cumbia-Psychonauten von Dengue Dengue Dengue auftritt und Sunn O)))- und Mayhem-Kehlkopfwüterich Attila Cshiar als gurgelnder Afromönch anerkennend mitwippt. Einziger Wermutstropfen: Der international gehypte Nyege Nyege Tapes Showcase aus Uganda konnte nur zur Hälfte stattfinden. Bamba Pana kreiselte zwar auf brachialen 200 Beats in der Minute über ostafrikanische Singeli-Musik, doch die deutschen Behörden verweigerten den für Part 2 angedachten Jay Mitta aus Tansania das Schengen-Visum. Schade, schließlich mussten erst kürzlich zwei Nyege Nyege Artists ihren Auftritt in New York absagen, nachdem sie keine Aufenthaltsberechtigung erhielten. Vielleicht ist die Welt eben doch zerbrochen und wir sollten die Scherben zertrampeln, bis sie, wie im Festivalbooklet beschrieben, »wieder fein sind wie tanzender Sand.«
Das Heart of Noise öffnete zum neunten Mal die musikalische Wunderkiste – und verschiebt Grenzen der Festivallandschaft erneut in die interessantesten Experimentalecken unserer Zeit. Schön, wenn es funktioniert. Bis nächstes Jahr!