Hallo, ich bin’s, eure skug Viennale-Korrespondentin, und ich diagnostiziere mir selbst akuten Vitamin-D-Mangel, denn ich hab’ von 17. bis 29. Oktober nicht viel Tageslicht gesehen. Dafür einige gute (und ein paar weniger gute) Filme, von denen hier – und hier – die wichtigsten rezensiert werden sollen.
»C’est pas moi« / »It’s not me« (Leos Carax, FR 2024)
Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi hat mit »C’est pas moi« (»It’s not me«) von Leos Carax eine ungewöhnliche Wahl für den diesjährigen Eröffnungsfilm der Viennale getroffen, denn mit 42 Minuten Spielzeit fällt der Film nur knapp in die Kategorie »Feature«. Auf den ersten Blick ist »C’est pas moi« eine lose, Stream-of-Consciousness-artige Aneinanderreihung von Szenen und Motiven, kommentiert vom Regisseur selbst und unterbrochen von fetten Typographie-Zwischentiteln, die wie Kapitel in einem Episodenfilm anmuten. Erst nach und nach wird verdeutlicht, dass es sich um eine autobiografische Retrospektive des Regisseurs handelt, Carax resümiert darin seinen (filmischen) Werdegang und zitiert aus privaten Videos und historischem Archivmaterial, vor allem aber aus seinen eigenen Werken und solchen, die ihn als Filmemacher beeinflusst haben, allen voran der französische Großmeister Jean Luc Godard, dessen Handschrift der Film deutlich nachahmt. In schnell geschnittenen Montagen begegnen uns historische Figuren, persönliche Wegbegleiter*innen und Schauspieler*innen, mit denen Carax wiederholt zusammengearbeitet hat, namentlich Denis Lavant, Juliette Binoche und seine 2011 jung verstorbene Lebensgefährtin Yekaterina Golubeva. Das spinnt eine interessante, emotionale und durchaus humorvolle Erzählung des Regisseurs und lässt den Titel des Films in Anlehnung an René Magrittes »Ceci n’est pas une pipe« interpretieren: Dies ist nicht Leos Carax, dies ist eine Repräsentation von Leos Carax. Und »C’est pas moi« ist mehr als ein Film. Es ist eine Selbstreflexion, eine Werkschau, eine Lebensgeschichte.
»A Real Pain« (Jesse Eisenberg, US, PL 2024)
Unterschiedlicher könnten Charaktere kaum sein als die Cousins David (Jesse Eisenberg) und Benji (Kieran Culkin), die sich in »A Real Pain« auf der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln einer Reisegruppe in Polen anschließen. Während David höflich und zurückhaltend, aber auch reserviert und unterkühlt wirkt, ist Benji charismatisch und charmant, aber auch alles andere als emotional stabil, was ihn zum sprichwörtlichen »pain in the…« macht. Im Laufe des filmischen Roadtrips wird das Thema Schmerz aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – vom Schmerz einer in die Brüche gegangenen Beziehung über die Trauer beim Tod einer nahestehenden Person bis zum Trauma eines Genozid-Überlebenden; aber auch der Schmerz einer Depression, die Menschen an den Abgrund drängt, und der Schmerz, ihnen nicht helfen zu können. Über allem steht der unfassbare Schmerz angesichts der Zeugnisse der polnischen Shoah, der alles andere in den Schatten stellt und Schuldgefühle hervorruft, wenn man als Jude im Zug erster Klasse reist. Die Frage, was »the real pain« ist, lässt sich nicht klar beantworten, aber Annäherung und Verständnis für den Schmerz des anderen sind ein erster Schritt zur eigenen Heilung. Jesse Eisenberg findet in seiner zweiten Regiearbeit einen leichtfüßigen, sensiblen und subtil witzigen Zugang zu diesem Thema und kann im Zusammenspiel mit Kieran Culkin auch als Schauspieler überzeugen.
»Kuraudo« / »Cloud« (Kiyoshi Kurosawa, JP 2024)
Die Geschäftsmethoden von Yoshii (Masaki Suda), der als Online-Reseller auf Kosten anderer Profit macht, sind nicht die feine englische Art. Das Schicksal, das sich in Form eines rachehungrigen Internet-Mobs wie eine dunkle Wolke über ihm zusammenbraut, schießt dann aber doch ein wenig übers Ziel hinaus. Erst sind es nur Kleinigkeiten, die ihn ahnen lassen, dass er sich im Laufe seiner Karriere ein paar Feinde gemacht haben dürfte: eine tote Ratte vor der Haustür, ein Stolperdraht auf dem Heimweg, ein nächtlicher Besucher vor dem Fenster seines Appartements in Tokyo. Als er seinen Dayjob – trotz oder wegen einer anstehenden Beförderung – kündigt und mit seiner Freundin in ein abgelegenes Haus am See zieht, um sich fulltime seiner Berufung als Scalper zu widmen, sieht es so aus, als hätte er seine Schäfchen ins Trockene gebracht. Doch es ist nur die Ruhe vor dem Showdown, den Regisseur Kiyoshi Kurosawa (»Pulse«, (»Cure«) hier mit zunehmendem Eskalationsgrad genüsslich zelebriert. Dabei braucht »Kuraudo« den Vergleich mit Klassikern des – nicht nur asiatischen – Action-Thrillers nicht zu scheuen und verspricht, auch selbst einer zu werden. Die Nominierung für den Auslands-Oscar ist ein erster Schritt in diese Richtung.
»Dear Beautiful Beloved« (Juri Rechinsky, AT 2024)
Wie schon der Oscar-prämierte Dokumentationsfilm »20 Days in Mariupol« zeigt auch die österreichische Produktion »Dear Beautiful Beloved« von Juri Rechinsky ungeschönt die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Auch hier leiden und sterben Menschen vor der Kamera. Auch hier wird der Schrecken des Krieges dokumentiert, am Beispiel jener, die ihm am wehrlosesten ausgeliefert sind: Alte, kranke und schwache Menschen, die von einem Notlager ins nächste verfrachtet werden. Mütter mit kleinen Kindern, die mitten in der Nacht auf überfüllten Bahnhöfen stranden. Aber auch die vielen Helfer*innen, die Hand in Hand arbeiten, um die Leichen der Gefallenen quer durchs Land heim zu ihren trauernden Familien zu bringen. Es ist eine brutale, herzzerreißende Abbildung der Ereignisse, die für Tausende Menschen in der Ukraine tägliche Realität sind und die man als Beobachter*in – im Kinosaal, vor dem TV-Gerät, am Display – nicht annähernd begreifen kann. Aber die Kamera bringt einem das Geschehen näher, überwindet die räumliche Distanz, widersetzt sich der Abstumpfung durch immergleiche Medienberichte und lenkt den Blick auf die Menschlichkeit abseits der kriegerischen Handlung: eine helfende Hand, ein freundliches Wort, eine tröstliche Umarmung. Der Film ist mehr als ein Mahnmal gegen den Krieg, er ist ein Zeugnis für Anteilnahme und Mitgefühl und ein Aufruf, das eigene Herz nicht davor zu verschließen.