skug: Als ich 1989 nach Jugoslawien zog, war ich echt erstaunt über Qualität und Quantität der Kunst. Ich war in Ljubljana mit den Leuten von NSK, Borghesia und Laibach unterwegs, jede Woche auf Konzerten im K 4 und ich war von den Socken, was alles so lief. Hast du damals noch etwas von orginal jugoslawischer Kunst mitgekriegt?
Petra Popovic: Ich bin 1991 mit 16 Jahren nach Österreich. Ich habe mich erst später mit jugoslawischer Kunst auseinander gesetzt, als ich die kognitive Reife sozusagen erreicht hatte. Vorher lebte ich in Karlovac, wo ich auch geboren bin. Tu?man kam an die Macht, er gewann die Wahlen mit seiner Partei HDZ und dann war die Musik aus. Er reinigte im Grunde genommen das Land sukzessive und systematisch von jeder Heterogenität und Kunstansprüchen, »befreite« es von allem Authentischen. Tu?man purifizierte. So wie man in einer Kläranlage das Wasser reinigt. 1989 bedeutete eine ziemliche Krise für mich, denn ich fragte meine Eltern, was sind wir jetzt? Sind wir Kroaten? Oder Serben? Tu?man wirkte sich leider bis Karlovac aus und das war nicht sehr weit vom Epizentrum entfernt.
Wie hast du dir dann die jugoslawische Kunst erobert?
Ich fand sie erst posthum. Meine Eltern kamen drauf, dass wir eigentlich Kroaten wären, selbst wenn wir revolutionärer Herkunft sind, denn Popovic ist ein montenegrinischer Name. Das bedeutet Tochter oder Sohn des Pope, des griechisch-orthodoxen Priesters. Unsere Vorfahren hatten vor Jahrhunderten die Küste gegen die Türken verteidigt. Als sie nicht mehr gebraucht wurden, versetzte man sie in das Landesinnere. Das war im 17. Jahrhundert und sie machten sich ein Naturschutzgebiet zu eigen. Dem Namen nach gilt man als Serbe, ein Pech für Kroaten (lacht). Insofern stand unser Haus auf der schwarzen Liste, was bedeutete, dass es in die Luft gejagt werden kann. Meine Eltern hatten das Land verlassen und mein Vater galt als Serbe, ohne jemals ein Serbe gewesen zu sein. Sie konnten aber unser Reihenhaus nicht in die Luft jagen, weil meine Oma darin wohnte. Sie wollte nicht weg. Eines Tages um sechs Uhr früh gab es eine starke Detonation und das »serbische« Nachbarhaus war einfach nicht mehr da. Alles in Schutt und Asche. Meine Oma hatte Glück, denn sie wollte Blumen aus dem Nachbargarten retten, aber ein sehr kroatischer Nachbar sagte zu ihr: »Popovic, lass‘ die Finger davon, du riskierst, dass auch dein Haus in die Luft geht.« Sie stellte ihm die Gegenfrage: »Was haben dir die Pflanzen angetan, wenn du schon die Menschen nicht ausstehen kannst?« (lacht) Dieses Ereignis hat mit Kunst nichts zu tun, aber es beinhaltet eine Lebenskunst, denn man weiß ja über diese Leute Bescheid. Man spricht angeblich nicht über die, die das alles gemacht haben. Die Täter sind weder bestraft, noch zur Verantwortung gezogen worden. Es hieß also, stillschweigend alles schlucken. Den Serben, die gewalttätig aus der Krajina hinaus befördert wurden, passierte so viel. Die waren aber Jahrhunderte lang dort als serbische Minderheit zu Hause. Das ist wirklich ein tragisches Trauerspiel.
Ganz zu schweigen von den Bosniern.
Bosnien und Herzegowina hat es wirklich abgekriegt. Die höchste Anzahl der Mischehen …
Wie kamst du dann mit der Kunst in Verbindung?
Wahrscheinlich im Rahmen dieser Identitätskrise in Österreich. Ich war wie entwurzelt in Österreich, wie wenn man eine Pflanze umpflanzen würde und sie kein Wasser mehr bekommt. Drei Jahre lang fühlte ich mich sehr verloren. Mir war nichts recht. Weder die Leute, noch ihre Lebensphilosophie, ihr Umgang mit anderen, dem Leben. Ihre Werte waren für mich keine Werte. Irgendwann suchte ich mich selbst. Im Rahmen meines Studiums begann ich Film in Frankreich und Italien zu studieren. Ich konnte mich auf die jugoslawische Film-Avantgarde rückbeziehen, die Blütezeit des jugoslawischen Kinos. Dazu gehört auch die OHO-Gruppe, die wir am 12. Dezember im Tonkino Saalbau zeigen.
Mein Vater hatte so ein verrücktes Leben, dass der berühmte Regisseur Vatroslav Mimica auf ihn aufmerksam wurde und sein Leben verfilmen wollte. Aber so widerspenstig wie mein Vater war, der in einem anderen Lebensfilm lebte (lacht), kam es nie dazu. Er hatte darauf vergessen. Mein Vater war der Staat im Staat, nie Parteimitglied, kam aber sehr gut mit dem System zurecht, nur mit der Vulgarität danach nicht mehr. Man war Jugoslawe und konnte sich nicht als Nationalist oder Patriot herzeigen, man war einer Republik zugeordnet, aber an sich sehr frei.
Wie verlief deine jugoslawische Filmsuche?
2008 begann ich mit der Recherche. Ich wollte mit dem Verein zur Förderung von Subkultur, der zugleich skug-Herausgeber ist, eine Novi Film-Reihe in einem österreichischen Kino machen und diese Avantgarde Film-Lücke schließen, aber mein Projekt kam erst Jahre später im Rahmen von Tonkino Saalbau total frei und ungezwungen zustande. Der Ausdruck Novi Film stammt aus einer Theoretisierung und nicht aus Jugoslawien. Diese »neuen Filme« kämpften gegen Partisanenfilme an, jeder hatte die Schnauze voll von Partisanenfilmen, denn diese Heldenfilme liefen alle nach dem gleichen Schema ab. Tito hat irgendwann, als die ersten Filmprojekte realisiert wurden, sogar an Želimir Žilnik adressiert gesagt: »Was wollen diese Narren?« Und keiner nahm ihm das wirklich übel, weil alle wussten, wie der Tito atmet, worum es ihm geht. Aber die Jugend entwickelte sich weiter, sie konnte und wollte nicht einfach das nachplappern, was die Alten sagen. Es haben eh alle gerne im Sozialismus gelebt und Sozialismus abgöttisch geliebt, nur hatten sie echte Anforderungen an diesen Sozialismus, er hätte authentischer sein sollen, viel aufrechter und nicht rückgratlos. Wenn ich mir aber jetzt hier in Österreich den Sozialismus anschaue, dann hat die Rückgratlosigkeit keine Grenzen. Da sind wir wirklich damals in Jugoslawien aufrechten Hauptes durch den Sozialismus marschiert. Und trotzdem waren wir super systemkritisch. Ich sage »wir« – also diese Leute, deren Filme ich zeige.
Wodurch hat sich der Novi Film gekennzeichnet?
16 mm-Filme waren heiß begehrt. Es war kein Material da. Sofern die Filmemacher welches aus dem Ausland geschenkt bekamen, haben sie sich darum gerissen, es ging wirklich um Leben und Tod. Die waren wirklich imstande, einen anderen zu töten für einen 16-Millimeter-Streifen (lacht). Eine enorme Leidenschaft entstand, die politischen Verhältnisse humaner zu gestalten, zu verändern. In Belgrad gab es Studentenbewegungen, in Zagreb die liberale Bewegung, das löste einiges aus in anderen Städten. Manche Filme liefen sogar in Kinos und die Kinos waren voll, die Leute standen an, um diese Filme zu sehen. Als die kommunistischen Organe drauf kamen, dass sie systemkritisch waren, setzten sie die Filme auf die Zensurliste.
Wie hast du diese Filme nach der Zerstörung Jugoslawiens wieder gefunden?
Es war alles verbunkert. In den 1990er Jahren fand man sicher nichts, als der Krieg wütete, sondern erst, als sich alles beruhigte und aus den Bunkern der »rote Staub« heraus kam. Man weiß gar nicht, was in diesen Bunkern alles steckt, man muss wirklich herumwühlen. Selbst heutzutage, wenn man in diese Kinotheken geht, in Klubs, in Filmarchive, gibt es immer wieder leidenschaftliche Leute, die dort sitzen, die eigene Sammlungen haben, die sich Filme digitalisiert oder kopiert haben. Das ist eine Auseinandersetzung Ende nie, immer wieder wird etwas Neues ausgegraben. Vor allem von verbotenen Filmen, wo man nicht mehr weiß, wo die Tonkopie ist, bei denen die Bildkopie in anderen Händen liegt oder zerstört wurde. Wie »Das Kapital« von Želimir Žilnik. Der Film galt als verschollen bzw. vernichtet und der Kameramann hatte doch eine Tonkopie versteckt und aufgrund dieser Tonkopie versuchte man das Ganze zu rekonstruieren. Želimir Žilnik ist regelmäßig in Wien und zeigt seine aktuellen sozialkritischen Filme.
Und Slowenien?
Die OHO-Gruppe war sehr kunstorientiert. Slowenien betrachtete man fast wie eine externe Republik, mehr Westen als Jugoslawien. Die waren immer »anders«. »Maskerade«, ein Film von Boštjan Hladnik, der auch verboten wurde, war sehr freizügig – fast wie Wiener Aktionskunst. Im Tonkino Saalbau zeigte ich in einer subjektiven Auswahl aus jeder Republik etwas. Eine subjektiv komponierte Filmreihe, ein Konglomerat an Zeit, Topos und das, was man gerade einatmet.
Ist das nicht virtuell, wenn du nur bis 16 in Jugoslawien gelebt hast, in einem Land, das gar nicht mehr existiert? Eine Fata Morgana?
Es ist vielleicht meine Fata Morgana, weil ich dort nicht mehr lebe. Aber es gibt eigentlich kein Dort mehr, kein Jugoslawien – ich bin zwar Jugoslawin, aber das Land gibt es nicht mehr. Also bin ich zu einer so genannten Kroatin mutiert und damit kann ich mich nicht identifizieren. Ich muss mich mit den Ausnahmen in jedem Land weltweit identifizieren. Das ist keine topografische Identifikation, sondern mit dem Menschsein an sich und diese Identifikation verträgt keine Grenzen.
Haben deine Eltern damals solche Filme gesehen?
Nein, meine Eltern haben selber Film gelebt. Also die hatten Film im Film. Wir hatten jeden Tag sozusagen einen Western zu Hause. Wir brauchten keinen zusätzlichen Film. Mein kleiner Bruder und ich haben quasi »mitgefilmt« und waren im Film drin, aber als Nebenrollen neben drei Hauptrollen – Vater, Mutter, Oma. Sehr großes Kino zu Hause, echtes Kino. Ich wusste, dass dieses Kino echt war (lacht). Man geht schon mit einer Materie anders um, wenn man weiß, dass sie eine Lüge ist. Damals war alles echt, insofern waren alle Emotionen echt, alle Streitgespräche, Streitreaktionen, Streitaktionen, Versöhnungsreaktionen, Versöhnungsaktionen, Liebe, Hass, Vernichtung, Kreation, Schöpfung, Leidenschaft – alles war hundertprozentig echt. Es gab eine Palette von A bis Z.
Kamen dir dann richtige Filme im Vergleich nicht langweilig vor?
Doch, viele. Deswegen zeige ich keine langweiligen Filme. Diesem Reichtum an Phantasie damals konnte niemand einen Stop machen. Die Filmemacher gewannen der Reihe nach Preise im Ausland, ob das in Berlin war oder in Cannes oder in Oberhausen. Tito war immer eingeladen (lacht). Sehr oft verließ Tito den Saal, weil er fand, den ganzen Müll vom Westen hätte man ins Land eingeschleppt. Aber er hatte auch Sparbücher in der Schweiz! (lacht) Wir haben ihn alle gemocht. Aber wenn jemand ausgewiesen oder verhaftet wurde, wie Stojanovic für »Plastic Jesus«, dann hassten wir ihn. Stojanovic ist jetzt irgendwo in den USA, komplett im Kapitalismus, arbeitet für die UNO oder so und viele Filmemacher sagen, er hätte seine Seele verkauft. Er war ein Schüler von Alexander Petrovic, ein Filmkind der FAMU in Prag. In »Plastic Jesus« ging man ein bisschen zu weit. Man hat Aufnahmen von Hitler mit Tito gleichgesetzt und das war dem Tito einfach zu viel. Puff, schon war Stojanovic im Häfn, alle waren überrascht. Tito war natürlich beleidigt.
Kann ich schon verstehen … Und die Vertonungen dieser Filme waren deine Idee?
Die gab es im Tonkino Saalbau bereits, die machten das schon vorher mit anderen Filmen. Ich fand das genial. Ursprünglich waren die Filme meiner Novi Film-Reihe entweder stumm oder es waren experimentelle Tonaufnahmen montiert. Wir haben bei manchen Filmen den Orginalton gelassen und dazu vertont. Bei Vlado Kristls Filmen beließen wir teils den Orginalton und vertonten dazu. Das ist wunderbar und schwierig. Für mich war das dermaßen kosmisch, dass die jugoslawische Avantgarde hier von österreichischen Musikerjungs vertont wird und neu ersteht und dass das so lebendig wird. Man kann die Orginalvertonung von der neuen Vertonung nicht mehr unterscheiden. Es entsteht immer wieder ein neues Kunstwerk.
Wie fühlst du dich dabei, als ehemals 16-Jährige, die ihr Land verlassen musste, der ihr ganzes Leben in Jugoslawien weggenommen wurde?
Vieles ist sicher unbewusst, aber es ist eine Verarbeitungsgeschichte. 2009 im Ost Klub, bei unserer Veranstaltung »Alles bleibt anders«, empfand ich es so, als ob ich mir die Seele wasche. Mittlerweile und sowieso geht das Leben weiter. Damals war die ganze Community rundherum, jeder versuchte, die Ereignisse auf irgendeine Weise zu be- und verarbeiten, es ist ja dann auch der 29. Novembar Chor gegründet worden, Geburtstag Jugoslawiens übrigens. Damals wollte das Filmmuseum nicht mitmachen, was mich immer wieder sehr trifft. Die vertrauen nur Makavejev oder Žilnik und das ist zu wenig. Der nächste Schritt wäre, das auf ein Niveau zu bringen, auf dem es mehr Öffentlichkeit hat. Ich selber bin am Schreiben. Es wird ein antikapitalistischer Film. Ansonsten bin ich Lebenskünstlerin, in Tradition meiner Eltern. Bevor ich mich zum Sklaven machen lasse, wäre ich eher bereit, Waffen zu verkaufen.
Vertonungen von Kurzfilmen der OHO-Gruppe
12. Dezember 2013, 19 Uhr im Tonkino Saalbau » details