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(F)ACTA

Eigentlich verstehe ich das nicht, obwohl ich doch alles weiß: »In Anbetracht der Tatsache, dass eine wirksame Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums für ein dauerhaftes Wachstum aller Wirtschaftszweige wie auch der Weltwirtschaft von entscheidender Bedeutung ist, [??]« und ?? »In dem Wunsch sicherzustellen, dass die Maßnahmen und Verfahren zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums nicht ihrerseits zu Schranken für den rechtmäßigen Handel werden, [??]« Verstehen Sie? Das ist ACTA, Anti-Counterfeiting Trade Agreement ?? oder »Handelsübereinkommen gegen Produkt- und Markenpiraterie«

»About the time we can make the ends meet, somebody moves the ends.«

(Herbert Hoover)

»In diesem Beruf kann man niemals nie sagen.«
(John Carpenter)

»Wir sind der McDonald’s des Rock. Immer zu dienen bereit.«
(Paul Stanley, KISS)

Ich suche und finde ?? Georges Simenon: »Stil, das ist vor allem Bewegung. Die Ordnung der Wörter ist nicht hinsichtlich der Syntax, der Eleganz der Vokabel oder des poetischen Rhythmus von Bedeutung, sondern nur in Beziehung zum Leben, das man übersetzen und vorbeiziehen lassen muss. Ich verwende nur sehr stoffliche Wörter, die in fünfundzwanzig Städten und zehn verschiedenen Ländern denselben Sinn haben.«
Das war aber früher. Schlussendlich bleibt kaum etwas davon ?? jedoch lange Zeit, vielleicht zu lange Zeit, war es so. Die handwerklichen Künstler tangierte das nicht oder mussten das nicht tangieren. Und die kommerzielleren Künstler, die von gro&szligen Firmen, Produzenten, Vertreibern, Agenten und Geschäften abgestützt werden, saugen den revolutionären Input von der eigentlichen Quelle ab und gehen dabei bis an die Wurzel der Produktion.

Gehen wir einmal davon aus, Sie wären ein Musiker, der einen Vertrag in der Tasche hat und dem man nur die Aufwandsentschädigung bezahlt, die immer nur einen Teil der eigentlichen Produktionskosten ausmacht (und selbst das geschieht nicht immer und eher selten). Man bezahlt dabei nicht Ihre Arbeit, und das, was Sie bekommen, hängt direkt davon ab, wie weit Sie in der industriellen Rangordnung gekommen sind. Je bekannter, je grö&szliger man ist, desto mehr kommt (man) raus. Also: ein Königskünstler steht schon gut da, wenn er vom -Label 10 % bekommt (oder 8 %, oder 6 % oder gar nur 4 %). Produktionskosten (die in vielen Fällen vom Label einbehalten werden oder bei den ??Majors?? von externen Partnern und gro&szligen Vertrieben abgezockt werden, wodurch nichts bei den eigentlichen Produzenten ankommt) ?? Produktionskosten also: 35 % ?? (manchmal ist es weniger, meistens ist es mehr, obwohl das Gesetz es verbietet, die Rechte der Autoren und Komponisten zu beschneiden). Und das Copyright der Masterbänder liegt ohnehin bei den Labels.

Was macht das also bei einer CD aus, die für 20 Euro im Geschäft verkauft wird? Der Verkaufspreis, den das Label vom Vertreiber verlangt, liegt bei 7,50 Euro ?? der Vertreiber verlangt in den Geschäften 10 Euro und der Ladenbesitzer verscherbelt das Teil dann für 20 Euro (sind also 35 % fürs Label, 15 % für den Vertreiber und 50 % fürs Geschäft ?? und dem Künstler bleiben dann die 10 % von den 35 % des Labels ?? macht also genau: 0,75 Cent.

Jetzt versteht man gleich besser, worum es geht, wenn man bei ACTA lesen muss: »In dem Wunsch, das Problem der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, einschlie&szliglich im digitalen Umfeld erfolgender Rechtsverletzungen, insbesondere im Hinblick auf das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte so zu lösen, dass die Rechte und Interessen der jeweiligen Rechteinhaber, Dienstleister und Nutzer miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden [??].«
Jean-Pierre Melville wurde einmal gefragt: »Wozu soll man ein eigenes Studio besitzen?« Seine Antwort: »Um es so wie Pagnol und Chaplin zu -machen. Man musste ja verrückt sein, ein eigenes Studio zu haben. Das war auch ein Albtraum! Ich lebte oberhalb des Studios und bin um drei Uhr morgens hinunter, um die Beleuchtung für den nächsten Tag anzumachen. Meine Studios sind 1967 in Rauch aufgegangen.«

Die 0,75 Cent für den Königskünstler (zufälligerweise bin ich ein solcher) habe ich in 95 % der Aufträge, Produktionen und Labels in zwanzig Jahren nie erreicht. Höchstens vier oder fünf Mal habe ich einen Vorschuss zwischen 250 und 1500 Euro erhalten, und niemals mehr. Und das, obwohl auch die Kataloge, in denen ich aufscheine, zwischen unterschiedlichen Vertreibern und Labels mehrfach verdreht, vertrieben und verteilt werden (wie bei einer Wurstpalette oder einem Ülkanister). Und wenn man sich bei den Labels genauer über die ursprüngliche Produktion erkundigen will, ist da im Allgemeinen niemand ?? keine Antwort, zurückgeschickte Briefe ohne Stimme oder Leben ?? nicht einmal einen Buchstaben ist man denen wert.

Georges Simenon: »Niemals ?? Meine Romane haben immer neun oder zehn Kapitel, geschrieben in neun oder zehn Tagen, weil ich unfähig bin länger durchzuhalten.«

Und im letzten Mai hatte ich es dann wirklich satt. Ich war ein wenig angetan von der Tatsache, dass meine CDs einen guten Platz in den Spezialgeschäften und Kaufhäusern aller Hauptstädte des Planeten hatten, und sogar auf den Märkten des Ausverkaufs und Gelegenheitskaufs war ich vertreten. Aber in diesem Business fragt man dich nicht einmal, wie es dir geht! Also habe ich meine Gewohnheiten geändert: Ich habe die Verkaufskette radikal verkürzt und bin ins Netz gegangen. Heute laufen die Dinge dennoch. Produktion? Ich selbst! (Copyright schon mal 100 %). Dabei hat sich die Technologie so unglaublich gut entwickelt, dass man die Produktionsinstrumente für weniger als 3 000 Euro kaufen und loslegen kann. Rechte? Ich selbst! (noch mal 100 %) ?? und da kommen noch die Gelder für das Label dazu! Mehr noch: Der internationale Vertrieb in 290 Ländern und auf fast einhundert Seiten (Amazon, iTunes, Spotify, Deezer, musicMe etc.) ?? macht noch mal 25 %. Das ist dann natürlich eine schöne Rechnung: Für ein Album, das als Download 9,99 Euro kostet, erhält der Künstler rund 6,49 Euro, sprich 75 %. Das ist aufs Ganze gesehen zehnmal so viel als vorher, und der Königskünstler wird auch nicht von irgendeinem Label abgelehnt!

Verstehen Sie jetzt ACTA besser? Wovon es handelt und wer da etwas von dem verliert, was die Welt verändern könnte? Alle gegenwärtigen Gesetze neigen dazu, die gro&szligen Korporationen und Vertreiber zu schützen und alle Zuwiderhandelnden schwer zu bestrafen ?? das ist sonnenklar. Das globale Handelsgeschäft ist in einer verzweifelten Lage, da es die Kontrolle und die Macht über die Handelspraktiken verlieren könnte, die seit dreihundert Jahren bestehen: Oligarchische Ausbeutung aller Ressourcen im Namen der Aktionäre und gro&szligen Bosse. Wenn Sie Filme oder Musik runterladen, verlieren nur diese Typen etwas. Wir – Sie und ich – haben indes etwas davon. Natürlich wollen einige immer noch etwas kaufen, aber jetzt haben sie die Chance auf »Fair Trade« ?? das aber ist gänzlich inakzeptabel für das business as usual.

Noch einmal ACTA? »Abschnitt 5: Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums im digitalen Umfeld [??] (7) Um elektronische Informationen für die Wahrnehmung der Rechte zu schützen, sieht jede Vertragspartei hinreichenden Rechtsschutz und wirksame Rechtsbehelfe gegen Personen vor, die wissentlich eine der nachstehenden Handlungen vornehmen, obwohl ihnen bekannt ist oder in Bezug auf zivilrechtliche Rechtsbehelfe den Umständen nach bekannt sein muss, dass diese Handlung die Verletzung eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts herbeiführen, ermöglichen, erleichtern oder verbergen wird [??].«

Lesen Sie an dieser Stelle nur ruhig weiter. Sie -werden nichts verstehen und doch alles wissen!

Eine Vollversion von ACTA findet sich auf den Seiten der EU: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/11/st12/st12196.de11.pdf

»Version française

Home / Musik / Artikel

Text
Alessandro Barberi (Übersetzung), Noël Akchoté

Veröffentlichung
18.04.2012

Schlagwörter

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