Ulrike Heiders neues Buch »Der Schwule und der Spießer – Provokation, Sex und Poesie in der Schwulenbewegung« ermöglicht den Leser*innen eine Reise ins Frankfurt am Main der 1970er-Jahre, wo die Autorin in einem besetzten Haus lebte und sich in der linken Szene bewegte. Dort kam sie mit Mitgliedern der damals um Martin Dannecker gegründeten Politgruppe RotZSchwul (Rote Zelle Schwul) in Kontakt und entwickelte enge Freundschaften, die sie nun mittels Interviews mit damaligen Weggefährt*innen und weiteren Recherchen nachzeichnet.
Als Zeitzeugin erweitert ihr Buch somit die Perspektive von Veröffentlichungen, die sich in letzter Zeit mit diesem Thema beschäftigt haben, beispielsweise Jannis Plastargias »RotZSchwul: der Beginn einer Bewegung (1971–1975)« und Patrick Henzes »Schwule Emanzipation und ihre Konflikte: zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre«. Heiders Blick auf diese Ereignisse ist insofern ein besonderer, als dass sie zwar viele Protagonist*innen dieser Zeit kannte, jedoch als Frau immer auch in einer gewissen Distanz im Hinblick auf Männlichkeit, die Verhandlung von Geschlechterverhältnissen und den Ausschluss von Frauen stand.
Sexual- und schwulenpolitischer Aufbruch
Die Autorin fängt wie in ihren anderen empfehlenswerten Büchern »Keine Ruhe nach dem Sturm« und »Vögeln ist schön – Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt« das Lebensgefühl und Kolorit der damaligen Dekaden lebensnah und voller Zuneigung ein. Die begrenzte Offenheit der damaligen Linken bezüglich der Homosexualität ist, ebenso wie der anonyme Sex auf öffentlichen Toiletten samt der dort stattfindenden Polizeirazzien, Thema. Dabei zeigt sie, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse in das Leben der Individuen einschreiben. So lernen wir Männer kennen, die mit dem im Nationalsozialismus verschärften Antihomosexuellenparagrafen 175, der in der BRD unverändert bis 1969 Bestand hatte, persönlich konfrontiert waren, die sich zwar öffentlich outeten, trotzdem jedoch immer ihre Vorhänge aus Angst zugezogen hatten.
Im Zentrum steht dabei der widersprüchliche Lebensweg des Anfang der 1990er-Jahre an AIDS verstorbenen Albert Lörken. Lörken beschreibt sie nicht als typischen Aktivisten der Schwulenbewegung, sein Leben gilt ihr vielmehr als Beispiel vieler Schwuler, die in den 1970er-Jahren ihr Coming-out hatten. So schreibt Heider: »Trotz der Legalisierung ihrer Lust […], der gelockerten Sexualmoral dieser Zeit und des Rückhalts, den die beginnende Schwulenbewegung bot, konnten nur die wenigsten von ihnen ein Leben führen, das nicht vom Leiden am Anderssein, von Schuldgefühlen oder deren Überkompensation, von Selbstzweifeln und Identitätskonflikten geprägt war.«
Heider gelingt es dabei, nicht auf individuell biografischer Ebene zu verharren, sondern sie bezieht immer auch gesellschaftspolitische Ereignisse mit ein. Sei es das Erscheinen des Filmes »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«, der 1971 Einfluss auf zahlreiche Gründungen schwulenpolitischer Gruppen hatte. Die Tunten und deren Umdeutung von Männlichkeit sowie die politische Organisierung der RotZSchwul, die sich zunächst der Untersuchung der schwulen Subkultur widmete, um im Anschluss daran politisch agitatorisch wirkmächtig zu werden.
(Sexual-)politische Zäsur
Heiders Portrait erstreckt sich bis in die 1990er hinein und thematisiert das Aufkommen der Alternativbewegung samt Etablierung eines Schwulenzentrums sowie das Auftreten von HIV und AIDS, Aktivismus und politische Diskursverschiebungen. Sie konstatiert zugleich eine generelle Tendenzwende innerhalb der Linken, die das positive Potenzial, dass der Sexualität von Seiten der Neuen Linken zugeschrieben wurde, zusehends problematisierte. War zuvor das Aufsprengen der damaligen Konventionen ein wichtiger Aspekt, bei welchem der Sexualität eine wichtige institutionenerschütternde Kraft zugesprochen wurde, abgesichert durch einen Sozialstaat, der ein hohes Maß an Freizeit ermöglichte, änderte sich dies nun.
In der Schwulenszene setzte sich zugleich zusehends ein neues Männerideal durch, anstelle von Androgynität war nun vielmehr die Idealisierung einer eher traditionellen Männlichkeit mit karierten Hemden und Schnauzbart zentral. »Mit der ausdrücklichen Billigung von verdinglichter Sexualität, von Prostitution und Sadomasochismus hatte sich die Kritik sexueller Realität in der gegebenen Gesellschaft erledigt. Diese Realität für Schwule, in Subkultur wie Sexualverhalten, galt es nun gegen Angriffe von außen zu verteidigen.«
Heiders Buch ermöglicht es erneut, durch ihre den Subjekten zugewandte Art in eine andere Zeit einzutauchen. Sie macht die damalige Atmosphäre erfahrbar sowie die politischen Ansätze verstehbar. Zugleich bietet die Lektüre die Möglichkeit, darüber zu reflektieren, welche der damaligen Ansätze auch in heutiger Zeit noch eine Relevanz besitzen und inwiefern Sexualität noch politisiert werden kann.
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