»Schreiben, ernsthaftes und existenzielles Schreiben, hält sich in Gebieten auf, in denen es weh tut und wo dieses Schreiben etwas Notwendiges und Unausweichliches wird.« So beschreibt Urs Widmer in seiner Rede zur Eröffnung der Tage der deutschsprachigen Literatur 2011 in Klagenfurt, was ??gute?? Literatur für ihn ausmacht. Alljährlich lesen hier 14 Autorinnen und Autoren um die Wette – am Ende steht die Verleihung des Bachmann-Preises, eines der prestigeträchtigsten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum. Schreiben, dort wo es weh tut. Dieser Forderung kommt auch die diesjährige Gewinnerin des Bachmann-Preises, die Kärntner Slowenin Maja Haderlap, nach. Nahe der Grenze zu Slowenien in Bad Eisenkappel (Železna Kapla) geboren, verpackt Haderlap die komplexe Geschichte der Kärntner Slowenen in ihre eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen. Schreiben, wo es nicht nur der Autorin, sondern ganz Üsterreich immer wieder weh tut – wo Ortstafeln zu einem Symbol für ein immer noch schwelendes Konglomerat an Geschichte, Sprache, (Identitäts-)Konflikten und dem Versuch gleichberechtigten Nebeneinanderlebens geworden sind.
Marmelade oder Malada
Drei Generationen leben in Haderlaps Roman »Engel des Vergessens« in dem alten Kärntner Bauernhaus – die Kindheit der Erzählerin in den 1960ern wird dominiert vom Geruch frischen Brotes, Malzkaffee und dem leisen Schmatzen aus dem Schweinestall. Es wird slowenisch gesprochen, auf der Marmelade steht »malada«, das Kind wird »kokica«, Hühnchen, gerufen. Nur zeitweise wird die Idylle, die Haderlap mit simplem Vokabular dennoch eindrucksvoll festhält, durchbrochen. Immer wieder erinnert sich die Großmutter an den Zweiten Weltkrieg und an ihre Zeit in einem Internierungslager. Kaum sind Verwandte zu Besuch, wird die Partisanenzeit des Großvaters rekapituliert. Nach und nach kann sich das Kind so die Vergangenheit der Eltern- und Großelterngeneration zusammenstückeln, auch wenn sich die Mutter davon wenig begeistert zeigt. Dennoch drängt sich die Vergangenheit immer wieder in den Vordergrund. Vor allem die Großmutter treibt das Erinnern weiter voran, organisiert eine Fahrt zu ??ihrem?? alten Lager. Äußerlich hat sich seit dem Krieg nicht viel verändert.
Ein Zaun, der neue Grenzen schuf
Die neue Grenze zwischen Slowenien und Üsterreich symbolisiert einzig ein Zaun im Wald, der früher nicht da war. Der Wald ist aber nicht nur Grenz-, sondern gleichzeitig auch Erinnerungsort. Hier haben sich die Partisanen in ihrem Kampf, gegen die Nationalsozialisten versteckt, hier geht der Vater noch immer Holz schlägern. Dabei wird er regelmäßig von seinen Erinnerungen eingeholt: Als Jugendlicher war er als Bote der Partisanen unterwegs und wurde beinahe ermordet. Die Vaterfigur ist eine traumatisierte und gebrochene Gestalt; seine Alkoholexzesse und Selbstmorddrohungen überschatten die Kindheit der Erzählerin. Seine Wut, Enttäuschung und Erschöpfung treffen ihn selbst dabei genauso hart wie seine Umgebung: Ein Kärntner Slowene kann es hier niemals zum Bürgermeister bringen, ist er überzeugt. Die Vergangenheitsbewältigung ist schlicht gescheitert, Zukunft sieht er für sich kaum. In der Person des Vaters verdichten sich die Identitätskonflikte: »Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss.« Der Wechsel aufs Gymnasium, die Berührung mit der deutschen Sprache und der Tod der Großmutter prägen die nächsten Jahre. Kärnten erlebt den Abriss der zweisprachigen Ortstafeln und die Minderheitenfeststellung. Der Vater versinkt immer mehr in Depressionen und Elend, die Ehe der Eltern scheitert endgültig.
Keine Zukunft ohne Vergangenheit
Als Studentin übersiedelt die Erzählerin nach Wien und damit in die Zukunft. Deutsch wird die Sprache, in der sie sich und ihre Emotionen ausdrücken kann und will: »Meine Gefühle sind nicht mit den Wörtern vertraut, die ich spreche. Konnte ich früher mit den Wörtern nach Gegenständen, Gefühlen und Gräsern werfen und sie treffen, prallen die Wörter jetzt von den Gegenständen und von den Gefühlen ab.« Die Heimat wird immer mehr mit Vergangenheit gleichgesetzt, die es zu bewältigen und in die eigene Identität zu integrieren gilt.
Haderlap ist es gelungen, ein wichtiges Buch zu schreiben, dessen Geschichte und Aussage auch heute noch aktuell ist. In simpler, aber berührender Sprache blättert sie das Leben, aber auch die Konflikte der Kärntner Slowenen auf. Es ist auch ein politisches Buch, jedoch eines, das sich nicht nur darauf reduziert und ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Sind es zunächst hauptsächlich persönliche Erinnerungen, entwickelt sich die Geschichte im Laufe des Buches immer mehr in Richtung abstrakter und philosophischer ?berlegungen. Diese berühren einfühlsam einen jahrzehntealten Konflikt, wollen ihn aber in keine Richtung auslegen. Vielmehr vermittelt »Engel des Vergessens« Vergangenes und Aktuelles – in politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Hinsicht -, was nachdenklich stimmen sollte. Klagenfurt scheint ein passender Ort, um dieses Nachdenken zu beginnen.
Maja Haderlap: »Engel des Vergessens«, Göttingen: Wallstein 2011, 288 Seiten, EUR 19,50