Nach Silvester ist vor Sylvester
Sylvester Anfang II, um die es nachfolgend hauptsächlich geht, sind das Resultat der musikalischen Entwicklung und personellen Umbesetzungen von Silvester Anfang, deren Sound sich seit ihrer Gründung 2004 so weit veränderte, dass mit der Veröffentlichung von »Sylvester Anfang II« 2009 der Titel als Name für eine neu zusammengesetzte Band übernommen wurde, deren Kernbesetzung gegenwärtig aus Tommy Denys, Bram Devens, Ernesto Gonzales, Wilheim Moorthaemers, Bart de Paepe und Glen Steenkiste besteht. Kernbesetzung deshalb, weil auf allen bisher erschienenen Veröffentlichungen immer auch andere zu hören sind. So ist beispielsweise der amerikanische Noise- und Industrial-Musiker Clay Ruby (Burial Hex) ein beinahe ständiger Gast bei den Recording-Sessions.
Die mehr oder weniger offene Bandstruktur bestimmt auch die musikalische Herangehensweise und das Selbstverständnis von Sylvester Anfang II: Beeinflusst durch historische Vorbilder wie Amon Düül II, die japanischen Taj Mahal Travellers oder die finnischen Pärson Sound sowie aktuelle musizierende Kollektive wie Sunburned Hand Of The Man oder die New Yorker No-Neck Blues Band spielen Sylvester Anfang II auf Improvisation und Spontaneität basierende psychedelisch-ausufernde Jams, die auch als alternativer Soundtrack zu Filmen wie »Lucifer Rising« (Kenneth Anger), »Holy Mountain« (Alejandro Jodorowsky) oder »The Invasion Of Thunderbolt Pagoda« (Ira Cohen) Verwendung finden können. Kurz: ästhetisch-gegenkulturelle Traditionen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, die sich noch immer als zu sperrig für sprunghafte Opinion-LeaderInnen erweisen, werden von Sylvester Anfang II aufgegriffen und fortgeschrieben.
Sympathy For The Devil
Nicht selten wird mit der Ermordung von Sharon Tate durch die Manson Family 1969 das Ende der Unschuld der amerikanischen Hippie-Bewegung behauptet: Die Blumen im Haar welkten, die Stones überlebten Altamont (im Unterschied zu Meredith Hunter) und Mick Jagger phantasierte sich einen Soundtrack zu Kenneth Angers »Invocation Of My Demon Brother« zusammen. Der Durchbruch zur anderen Seite verwandelte sich in einen Horrortrip: Dämonen, Dunkelheit, Drogen. Ob letztere erstere evozieren oder die Halluzinogene nur sichtbar machen, was ohnehin da ist? – Für Sylvester Anfang II liegt in der Faszination für die Rückseite von Peace, Love & Happiness ein Schlüsselmotiv ihrer musikalischen Trips, die ihre historischen Vorläufer bei offiziell gescheiterten und überwiegend vergessenen Visionären wie Bobby Beausoleil und Angus MacLise finden. Musik, die aus heutiger Perspektive erstaunlich wenig gealtert und musikalisch vielschichtiger ist und weniger abgenutzt klingt, als die vielen Harmlosigkeiten, die damals durch Ölprojektoren beleuchtet aus TV-Beatschuppen in die Welt gesendet wurden und heute das kulturelle Gedächtnis an die 60er Jahre dominieren.
Was – für ungeübte Ohren – bei Sylvester Anfang II wahlweise bekifft oder besoffen herunter gespielt klingt, bedarf einer gewissen Strenge, kommt nicht von selbst und reflektiert musikalisch auf jenes oben skizzierte »verbotene Wissen«, das in der offiziellen Geschichtsschreibung immer nur als Fehltritt, Verirrung oder Sündenfall erscheint.
Diesem Konglomerat aus historisch Verfemten, Verdrängtem und Vergessenem gegenüber mag der Verdacht des Obskurantismus auf der Hand liegen – jedoch: er ist falsch. Sylvester Anfang II sind auch ein Haufen von Plattensammlern, Konzertveranstaltern und Label-Betreibern, die Altes archivieren, Neues aufsammeln und damit letztlich Aufklärer, Enzyklopädisten gleich – hier und da freundlich von Haschischduft umwölkt.
Funeral Folk, Sloow Tapes & KRAAK
Glen Steenkiste, Wilheim Moorthaemers und Steve Marreyt (der noch bei Silvester Anfang dabei war und jetzt unter dem Namen Edgar Wappenhalter sonnigen Psych-Pop veröffentlicht) betreiben zusammen Funeral Folk, das als DIY-Label hauptsächlich den befreundeten belgischen Underground dokumentiert. Bart de Paepe veröffentlicht mit Sloow-Tapes zeitgenössischen internationalen Psychedelic-Underground (Samara Lubelski, GHQ, Gnod, Cursillistas, My Cat Is An Alien, Suishou No Fune, Expo 70 und viele andere mehr) und rettet seltene Aufnahmen, wie die einer durch indische Musik unterlegten Lesung der amerikanischen Poetin Louise Landes Levi, die so berühmt sein könnte wie Patti Smith (es aber nicht ist), vor dem Vergessen. Und Tommy Denys ist als Mitarbeiter von KRAAK seit Jahren dafür mitverantwortlich, dass sich Belgien zur ersten Adresse für KünstlerInnen entwickelt hat, die jenseits großer Bühnen (oder lange bevor sie im kulturellen Mainstream einmünden) ihr Publikum finden. Die Liste der MusikerInnen, die am jährlich stattfindenden KRAAK-Festival teilgenommen haben, ist lang: von Patty Waters über die Magick Markers, Six Organs Of Admittance und Richard Youngs zu Wolf Eyes, den Peaking Lights, Smegma, Tony Conrad, Daniel Higgs, Arthur Doyle und Phil Minton. Sie umfasst sämtliche nicht-ganz-so-alltäglichen Musikstile wie Noise, Vokal-Improvisation, Psych-Folk, Drone, Outsider-Music, Free-Jazz, Moderne Komposition ebenso wie Musik, die als solche vielleicht gar nicht erkannt wird… Das Festival, das derzeit in Aalst ansässig ist, ist weit über die Grenzen Belgiens bekannt und wird alljährlich zum Treffpunkt einer kleinen und weit verzweigten Szene von AktivistInnen und KünstlerInnen, die mehr oder weniger auf DIY-Basis experimentelle Musik machen und/oder sich um deren Infrastruktur (Labels, Konzerte, Öffentlichkeit) kümmern. Auch gehört zu KRAAK ein Label, das Platten nicht nur belgischer KünstlerInnen veröffentlicht – am Bekanntesten darunter vielleicht die vor dem Sprung auf größere Bühnen stehende Amerikanerin Meghan Remy mit ihrem One-Girl-LoFi-Pop-Projekt U.S. Girls. Auf KRAAK erscheinen zudem auch Solo-Projekte, die von einzelnen Mitgliedern von Sylvester Anfang II verfolgt werden.
Ignatz, Hellvete & Bear Bones Lay Low
Ignatz ist das Solo-Projekt von Bram Devens, der einen zärtlich-schlaflosen, elektrischen Blues spielt, der in seiner Intimität an Loren Connors oder Steven R. Smith erinnert, musikalisch aber eher in der Nachbarschaft von Ilyas Ahmed oder Keijo zuhause ist: In sich selbst zurückgezogene, ruhende Musik, die große Gesten scheut, dadurch aber um so eindrucksvoller wirkt. Mit großer Ruhe und Gelassenheit geht auch Glen Steenkiste als Hellvete zu Werke, wenn er seine an La Monte Young und Yoshi Wada geschulten Drones entwickelt. Mit Harmonium, Orgel und diversen anderen akustischen Instrumenten meditiert er über seiner Version einer minimalen Eternal Music, deren religiöser Ûberbau allerdings nicht weiter gestützt wird. Es geht ihm dabei wohl zunächst um den Sound an sich. Dessen Erfahrung jedoch führt unweigerlich zu einer veränderten (und verändernden) Zeit- und Selbstwahrnehmung: Zwanzigminütige Harmonium-Improvisationen gehen nicht spurlos an einem vorüber… Etwas aufgekratzter geht es bei Ernesto Gonzales‘ Bear Bones Lay Low zu. Der Exil-Chilene, der seit einigen Jahren in Belgien lebt, hat mit dem gerade auf KRAAK erschienen Album »El Telonero« einen retro-futuristischen Mix reduzierter elektronischer Musik heraus gehauen, der vor allem stark an Alan Vega/Suicide oder frühe Cabaret Voltaire erinnert und sich dadurch nicht wenig von den eher Krautrock-beeinflussten früheren Bear Bones Lay Low-Aufnahmen unterscheidet. Minimal Synth Musik, die im gegenwärtigen (und auch schon wieder abebbenden) Hype um Hypnagogic Pop sicher untergebracht werden könnte – aber wer will das schon?
No Hype
Der allmählich sich einstellenden Aufmerksamkeit von Hypes und HipsterInnen gegenüber bleiben Sylvester Anfang II gelassen. Alle Beteiligten sind seit Jahren mit ihren diversen Tätigkeiten im belgischen Underground und darüber hinaus tätig, kennen die Vor- und Nachteile des unbeirrten Weitermachens und müssen nicht darauf warten, in den Fokus eines kurzlebigen Trends zu geraten. Im Gegenteil geht das gemeinsame Interesses am Verfemten, Verdrängten und Vergessenen, an der Rückseite popkultureller Utopien über deren kurze Aufmerksamkeitsspannen hinaus. Selbst wenn Krautrock (was auch immer damit gemeint sein soll) seit einiger Zeit als chic gilt. Es ist das Eine, Can und Kraftwerk zu hören – etwas Anderes, vor Kalachakra, Siloah und German Oak nicht Halt und sich mit all dem vertraut zu machen.
Die eher wissenschaftliche Neugier, der Forscherdrang, immer tiefer in die Archive hinab zu steigen, um immer Erstaunlicheres ans Licht zu bringen, geht über die coole Geste des Bescheidwissens weit hinaus. Und man hört der Musik von Sylvester Anfang II an, dass sie nicht auf billige Effekte und kurzfristige Erfolge schielt. Mit dem Blick zurück in die Geschichte der Verlierer, der Belächelten oder der Zurückgelassenen wird stoisch an der Aktualisierung der eigenen psychedelischen Freakouts weiter gearbeitet – in aller Ruhe. Aus oft stundenlangen Jam-Sessions werden die dichtesten Momente heraus geschnitten, und abgemischt und die jüngsten Resultate dieser Arbeit, die beiden letzten Alben »Perzische Tapijten« und eine Aufnahme für die britische »Latitudes Serie«, waren – wenn auch nur in einer Kleinauflage von jeweils 500 Stück – innerhalb von wenigen Tagen vergriffen. Auf beiden Veröffentlichungen ist die im Rahmen des Artikels viel zitierte Vergangenheit gegenwärtig, aber die Musik erstarrt in keiner Sekunde zur rückwärtsgewandten Pose. Sylvester Anfang II sind ein Haufen besessener Freaks, die mit Liebe zum Detail und unter Zuhilfenahme von Dope und Duvel Musik machen, die jenseits von Nischenmärkten vielleicht niemals wahrgenommen werden wird – aber dafür wird sie auch nicht gemacht. In gut sortierten Plattenläden und Mailordern kann man Exemplare ihrer letzten Veröffentlichungen sicher noch finden – das Suchen danach lohnt sich.
Sylvester Anfang II – Auswahldiskographie:
»Sylvester Anfang II« (2LP & CD, Aurora Borealis, 2009)
»Commune Cassetten« (LP, Blackest Rainbow, 2010)
»Latitudes Serie« (LP & CD, Latitudes/Southern Records, 2012)
»Perzische Tapijten« (LP, The Great Pop Supplement, 2012)