Ob irgendwann einmal jemand ans Telefon geht? Sheriff Truman, Agent Cooper und selbst die eifrige Sekretärin Lucy stehen einfach nur herum und lassen es klingeln. Und das Telefon in der Sheriff Station von Twin Peaks klingelt unaufhörlich. Ebenso wie es im Film »Lost Highway« klingelt oder in »Mulholland Drive«. Immer schrill – und eigentlich ist es nie eine gute Idee, abzuheben. Meist spricht eine unheimliche Stimme, gibt rätselhafte Koordinaten oder Uhrzeiten durch. Von einem Ort, der uns unbekannt bleibt, in Schatten getaucht, meist nur durch eine sonderbare Leuchte erhellt.
Jetzt ist David Lynch, die vielleicht sonderbarste Leuchte Hollywoods, selbst an einem unbekannten Ort. Am 15. Jänner 2025 starb der Regisseur, Maler, Musiker und Schauspieler, kurz nachdem er aufgrund der Waldbrände seine geliebte Wahlheimat Los Angeles verlassen musste. Los Angeles und Hollywood beschäftigten den aus Montana stammenden Künstler eine Karriere lang. Er war vom weichen Licht Kaliforniens so fasziniert wie von den tiefen Schatten, beides Material der (Alb-)Traumfabrik Hollywoods. Wie sein Idol Billy Wilder zeigte sich David Lynch komisch und abgründig zugleich. Die große Blaupause für seinen schönsten Film »Mulholland Drive« (2001) ist »Sunset Boulevard« (1950), ein bittersüßer Abgesang auf die Mythen der Filmindustrie. Am Ende von Wilders Film treibt der Held tot im Swimmingpool, erschossen von einer Hollywood-Diva.
Rückkehr nach Twin Peaks
Und weiter klingelt das Telefon. Nach langer Bildschirmpause kehrte Lynch 2017 ausgerechnet mit einer 18 Episoden starken Fortsetzung seines kultgewordenen Serienepos »Twin Peaks« (1990–1991) zurück, hintersinnig betitelt als »The Return«. Ohne falsche Nostalgie sind statt der schrill klingelnden Telefone nun Smartphones zur Hand. Sekretärin Lucy zeigt sich verwirrt, kann sich nicht vorstellen, wie Sheriff Truman eben noch mit ihr gesprochen haben und jetzt plötzlich vor ihr stehen kann. Ebenso wenig wie sich Fred Madison, der verwirrte Protagonist von »Lost Highway« (1997) vorstellen kann, dass der fahlweiß geschminkte Mystery Man vor ihm stehen und zugleich bei ihm zuhause das Telefon abnehmen kann. Technik und Technologie sind bei Lynch immer unheimliche Vermittler, funkenschlagende Blackboxes, bei denen man nie weiß, was am anderen Ende rauskommt.
Auch Lynchs Stimme schien von einem anderen Ort zu kommen. Knarzend, hoch, schräg. Dazu sein furchiges Gesicht, die gelgetürmten weißen Haare und natürlich die Zigarette. Nicht selten eine Sonnenbrille. Gab es schon äußerlich Parallelen zur inszenierten Persona Andy Warhols, fühlten sich auch die Interviews ähnlich an. Wie Warhol gab Lynch oft Antworten in einfachem Englisch. Wie seine Figuren sprach er gerne von Licht und Dunkelheit, von der Liebe, von Antrieben und höheren Mächten. Und wenn er keine Lust hatte, kommentierte er das mit einem herzhaft hingeschmetterten »Bullshit!«, wobei er danach wie ein Kind suchend herumguckte, wo das gemeine Wort wohl hingefallen sein möge.
Man konnte ihm nicht böse sein. Herzlich, spielerisch, neugierig wie ein Kind gab sich der Bilderstürmer immer wieder. Was davon seinem Wesen entsprach, werden wir nicht erfahren. Skandale, private Reibereien kennen wir nicht, maximal irritierte Lynch mit seiner Neigung zur Transzendentalen Meditation. Missionarische Anwandlungen hatte er aber keine und auch sein Werk litt darunter keinesfalls. Esoterisch, entrückt und voll kindlichem Weltentdeckerglauben ist bereits sein berühmtes Alter Ego FBI Agent Dale Cooper, der für seine Ermittlungen schon einmal Glasflaschen wirft oder die Kraft des tibetanischen Volks kanalisiert.
Cowboys und Hexen
Lynchs Filmschaffen wirkt nicht nur verschroben, sondern auch seltsam naiv. Auf dem Blatt lesen sich viele seiner Figuren wie Charaktere aus fantastischen Kinderromanen: Mystery Man, The Cowboy, The Log Lady. Dass gerade diese kindlichen Namen viele so intensiv berühren, teils auch beängstigen, zeigt die Tiefenwirkung einer Kunst, für die es längst ein Adjektiv gibt: »lynchian«. Erwartbare Interpretationen weisen immer wieder auf das Märchenhafte und Archetypische der Filme hin – und haben damit natürlich recht. Lynchs Filme ähneln dem Versuch, hinter allen vielgeliebten Kinderserien-, Märchen- und Fernsehfiguren unheimliche Doppelgestalten (Jung’sche Schatten) zu finden.
Ein weiterer von Lynchs Filmlieblingen, »The Wizard of Oz« (1939) gilt nicht nur als wunderbares Filmmärchen, sondern steht auch für die Reise ins Unbekannte, wobei am Ende die Begegnung mit dem Bösen folgt. Lynchs launigster Film, das Americana-Märchen »Wild at Heart« (1990), nimmt sich des Filmklassikers sehr freimütig an. Am Ende kehrt das bereits in der Serie »Twin Peaks« zum Engel gewordene Mordopfer Laura Palmer (Sheryl Lee) als gute Hexe wieder und macht, dass sich alle wieder liebhaben. Bis heute ist der Film – selbst unter Lynch-Fans – umstritten, dennoch bleiben seine Bilder unvergessen: verlorene Highways, lachende Hexen und der treudoofe Elvis-Imitator Nicolas Cage.
Bittersüßer Nachklang
Bei Lynch spielt die Musik. Und ist nicht immer klar zu hören. Oft knistert es am anderen Ende, die Technologie versagt. Knackende Leitungen, die Cracks einer schon vielgespielten Schallplatte. Ohne seine Stammschauspieler*innen Kyle McLachlan, Laura Dern oder Jack Nance ist das Schaffens Lynchs ebenso wenig denkbar wie ohne seinen Stammkomponisten Angelo Badalamenti. Dieser verstarb (wie Lynchs Dream-Pop-Kollaborateurin Julee Cruise) bereits 2022, konnte aber noch bei der dritten Staffel von »Twin Peaks« mitwirken und komponierte für fast alles, was Lynch schuf. Die dunklen Flure, roten Vorhänge und ins Leere starrenden Gesichter sind ohne die flächig-dunklen Synthesizerflächen des Klangkünstlers nicht vorstellbar. Und dann ist da noch der süßlich-melancholische, frech-jazzige Soundtrack von »Twin Peaks«. Die dämmernde Titelmelodie, irgendwo zwischen Traum und nordamerikanischer Realität, hängt uns bis heute in den Ohren. Bittersweet – ohne Übertreibung.
Auch Lynch hat Musik gemacht, mit Badalamenti kollaboriert oder der Sängerin Chrysta Bell. Letztere trat wie Badalamenti auch als Schauspielerin in seinem Werk auf, als grazile FBI-Agentin in der dritten Staffel von »Twin Peaks«. In der gaben sich überhaupt diverse hippe Indie-Acts die Klinke in die Hand. Am Ende fast jeder Folge war ein kleines Konzert zu sehen. Nicht zu vergessen, der Auftritt von David Bowie als Sänger in »Lost Highway« und Schauspieler im Spielfilm »Twin Peaks. Fire Walk With Me« (1992). Die Verflechtungen von Musik, Bild und Kunst im Allgemeinen gehen bei Lynch unendlich tief. Und ja, Lynch war primär bildender Künstler, hat ein umfassendes Werk aus Gemälden, Zeichnungen und auch Fotografien gestaltet: vulgäre und sehnsüchtige Figuren, mutierte Vorstadtidylle, Fabrikhallen und Hotelzimmer. Man sieht das ABC der »lynchian spaces« vor sich ausgebreitet. Düstere Americana.
Und nun stehen wir im berühmtesten Raum, den David Lynch je gestaltet hat: der Black Lodge. Rote Vorhänge, schwarz-weiß gekachelte Böden, rote Sessel, antike Statuen. Wesen, die in verzerrten Worten sprechen und im Blitzlicht tanzen. Und Lynch ist tot. Aber man kann ihn sich vorstellen, wie Agent Cooper im roten Sessel sitzend. Er beobachtet das Geschehen ruhig und aufmerksam. Und dann ist er schon weiter. Irgendwo klingelt ein Telefon. Keiner nimmt ab.
Veranstaltungshinweis: Am 20. Jänner 2025, 20:00 Uhr, findet im Volkstheater eine Trauerfeier für David Lynch statt. Im Rahmen der Reihe »Nackt & Mutiert« gedenken der Horrorregisseur Jörg Buttgereit und der Wiener FM4-Journalist Christian Fuchs des Regisseurs und seines Werks. Mit Gästen und Effekten.