Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik Österreich hat eine rechtsextreme Partei einen Regierungsauftrag erhalten. Welche Folgen das haben wird, weiß aktuell niemand – nicht einmal die FPÖ. Dennoch geistern allerlei Prognosen und Weltuntergangsvorstellungen durch die Öffentlichkeit. Sie verdichten sich in einer Schreckensgestalt: der Dritten Republik. Eva Linsinger prognostiziert im »Profil«, »die Zweite Republik neigt sich ihrem Ende zu«. Der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler spielt im »Standard« mit dem Gedanken, »dass der Beginn des Jahres 2025 der Beginn der Dritten Republik in Österreich war«. Und der »Falter« sagte bereits im September vorher, dass wir »eine Zeitenwende in die Dritte Republik« erleben. Sie vereint der Verdacht, dass sich mit einem Kanzler Kickl ein Umbruch einläute.
Doch worin sehen die Hellseher*innen den Umbruch? Anton Pelinka hat vor einigen Jahren betont, dass es sich bei dem Begriff »Dritte Republik« um »eine Art politisches Gespenst« handle. Der Term wurde 1977 geprägt, um das System Kreisky zu kennzeichnen. Zeitweise hat ihn die ÖVP positiv aufgenommen, bis er 1994 in die Fänge der FPÖ gelangte. Die »Dritte Republik« wurde seither mit Jörg Haiders Forderung nach einem Verfassungsumbau in Richtung eines Präsidialsystems verbunden – keine explizite Forderung der Kickl-FPÖ. Aktuell nutzen ihn vor allem Antifaschist*innen als Warnsignal. Das Konzept ist polemisch. Es macht die Gefahr der FPÖ in einem Schlagwort anschaulich. Doch dabei handelt es sich um ein subtiles Framing, dass ein konformistisches Bild Österreichs zeichnet. Sehen wir uns das genauer an.
Das Wesen der Zweiten Republik
Nehmen wir den Kommentar einer unumstrittenen moralische Autorität – Paul Lendvai. Der 95-jährige Autor hat sich über Jahrzehnte eine bewundernswerte Kenntnis demokratischer Prozesse und ihrer Repression aufgebaut. Man darf daher hellhörig werden, wenn Lendvai im »Standard« der österreichischen Geschichte attestiert: »In den letzten Tagen ähnelt sie einer Achterbahn, mit Wechselfällen in immer rasanterem Tempo zu einer Dritten Republik. All das, was das Wesen der Zweiten Republik ausgemacht hat – Lernen aus dem Niedergang der Ersten Republik, Kompromissfähigkeit statt Polarisierung, Gegnerschaft statt Feindschaft, Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf – scheint gegenwärtig Schritt für Schritt verlorenzugehen.«
Zweierlei ist daran bemerkenswert: Zum einen verbindet Lendvai das Schlagwort »Dritte Republik« mit »weichen«, ideellen Veränderungen. Es ist nicht der »harte« Verfassungsumbau eines Jörg Haider, der ihm Sorgen bereitet. Zum anderen schreibt er die Auflösung des »Wesens der Zweiten Republik« nicht allein auf das Konto der FPÖ. Unter dem Schlagwort »Klassenkampf« scheint sein Kommentar eine Spitze gegen die Babler-SPÖ zu erhalten. (Denn Klassenkämpfe sind für Konservative bekanntlich nur ein Problem, wenn sie von unten kommen.) Das Schreckgespenst »Dritte Republik« steht also für einen Niedergang der politischen Kultur, den radikale Linke mitzuverantworten haben. Kickl ist allenfalls der Weltgeist zu Pferde: »Kickl als Bundeskanzler bedeutet eine Zeitenwende in Österreich – außen- und innenpolitisch, wirtschaftlich und kulturell. Eine von Rechts-außen-Politikern, mit einem Kern von schlagenden deutschnationalen Burschenschaftern, beherrschte Festung wird in der EU zu dem Klub der Zerstörer von Viktor Orbán und Robert Fico gehören.«
Kickl, Orban, Fico – diese Assoziation ist interessant. Fico, der Ministerpräsident der Slowakei, ist Vorsitzender einer sozialdemokratischen Partei. Zwar trägt er gezielt rechte (Kultur-)Politik mit, sozial- und wirtschaftspolitisch steht er jedoch links. Der »Klub der Zerstörer« sind also Anti-Liberale, nicht Rechtsextreme. Lendvais »Zeitenwende« ist nicht das Erstarken des Neofaschismus, sondern dass der politische Liberalismus europaweit an Bedeutung verliert.
Das Schweigen über die ÖVP
Paul Lendvais Kommentar ist symptomatisch für das kollektive Aufstöhnen des republikanischen Mainstreams nach dem Scheitern der Zuckerl-Koalitionsverhandlungen. Eine Sache sticht hervor: Keine*r der Wahrsager*innen spricht über die Rolle der ÖVP beim Wechsel zur »Dritten Republik«. In den Unglücksprophezeiungen taucht sie nur als willenloser Steigbügelhalter der FPÖ auf. Allenfalls beklagen einzelne, dass man tiefgreifende sozialpolitische Einschnitte von einer Blau-Schwarzen-Regierung erwarten dürfe. Jedoch erscheint die Volkspartei in kaum einem Kommentar als aktive staatspolitische Kraft, die die »Zeitenwende« vorantreiben würde. Bisher zumindest.
Diese Lücke ist konsistent mit den Reaktionen nach der Nationalratswahl: Die ÖVP war jahrelang in der Kritik, Rechtstaatlichkeit und Medienfreiheit ausgehöhlt zu haben. Doch kaum stand die Möglichkeit eines Kanzlers Kickl ernsthaft im Raum, wurde die Volkspartei zum Garanten der Demokratie – auch für viele Linke. Strategisch war das nicht unklug. Es ist aktuell keine parlamentarische Mehrheit möglich, die weder FPÖ noch ÖVP miteinschließt. Aber man muss anerkennen, dass jedwede Hoffnung in die Volkspartei unwillkürlich ihre Propaganda bestätigt. Bereits im Wahlkampf inszenierte sie sich als Gewährsfrau von »Stabilität für Österreich«. Erfolgreich, wie es scheint.
Business as usual
Die ÖVP steht tatsächlich für business as usual. Die Volkspartei ist seit 1987 in allen Bundesregierungen Österreichs vertreten gewesen. Sie hatte also 37 Jahre Zeit, um ihre Macht auszubauen. Es ist schlichtweg nicht zu erwarten, dass sie einen radikalen Institutionenumbau mittragen wird. Sie hat ein Interesse an Konsolidierung, nicht Umsturz. »Stabilität« ist ihr Kürzel für den machiavellistischen Versuch, an der Macht festzuhalten. Für Einzelne, etwa den geschassten Kanzler Karl Nehammer, gefährdet die FPÖ ihre Position. Doch für die Partei ist sie eine Partnerin fürs Grobe. Eine Koalition mit Rechtsextremen verspricht, leichter Widersacher*innen einschränken, Störelemente finanziell aushungern und die eigenen Gewährsleute in noch mehr Institutionen verankern zu können – und dabei gleichzeitig als das geringere Übel dazustehen.
Die anti-demokratischen Tendenzen der FPÖ lenken von der a-demokratischen Agenda der VP-Technokrat*innen ab. Amnesty International attestierte Österreich in seinem letzten Jahresbericht bereits vermehrt Menschenrechtsverletzungen, u. a. »besorgniserregende Zunahme von Angriffen auf die Pressefreiheit« und die Kriminalisierung von Klimaaktivist*innen. Zusätzlich beklagt die NGO gezielte Untätigkeit des Bundes bei exzessiver Gewaltanwendung durch die Polizei, bei Rechten auf ein faires Gerichtsverfahren und in der Sozialpolitik. Blau-Schwarz kann daran nahtlos anschließen. (In der Personalie Sebastian Kurz spitzt sich diese Kontinuität zu. Er solle, aus Sicht einiger in der ÖVP, Partei und Staat »retten«, indem er das alte Machtverhältnis Schwarz vor Blau wiederherstellt und die hetzerische Gesellschaftspolitik der FPÖ ohne inhaltliche Korrektur weiterführt.)
Ökonomie und Rassismus
Die Grabgesänge der Zweiten Republik überdröhnen solche Kontinuitäten. Damit wird es auch unmöglich, die FPÖ angemessen zu kontextualisieren. Ihr Erfolg beruht auf dem gleichen Kalkül wie der der ÖVP. Das zeigt sich nirgends besser als an der Rolle rassistischer Agitation. Der Freud’sche Versprecher der VP-Landeshauptfrau Mikl-Leitner, man müsse, »konkrete Maßnahmen setzen für den wirtschaftlichen Aufschwung als auch im Kampf gegen den Islam«, ist bespielhaft. Ökonomie und Rassismus sind ihr zwei Seiten derselben Medaille, bewusst oder unbewusst. Meistens wird letzteres für eine unvernünftige Emotion ungebildeter Schichten gehalten. Doch Mikl-Leitner weiß: Das europäische Wirtschaftssystem ist rassistisch organisiert. Es »braucht« Menschen, die Drecksarbeit machen – billig. Und damit es billig bleibt, müssen es mehrheitlich Menschen mit weniger Rechten sein. Die syrische Reinigungskraft, der afghanische Essensbote, die nigerianische 24-Stunden-Pflege, um nur ein paar Klischees zu bedienen. Man »muss« sie an ihrem Platz halten. Das ist die Aufgabe einer ganzen Reihe an Institutionen, Kontrollen, Schikanen.
Entsprechend dieser Herrschaftslogik ist es folgerichtig, »wirtschaftlichen Aufschwung« (größere Ausbeutung) und den »Kampf gegen den Islam« (andere klein halten) in einem Satz zu nennen. Der Rassismus der FPÖ ist die Fortsetzung dieser Politik auf Steroiden – kein Bruch mit ihr.
Angesichts solcher Kontinuitäten ist es zu früh, von einer »Zeitenwende« zu sprechen. Die Diagnose wird vielleicht richtig gewesen sein, Blau-Schwarz wird vielleicht der Beginn eines Systemwechsels gewesen sein. Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Ich bin nur überzeugt: In der Gegenwart dient politische Sternenschau dazu, reale Kontinuitäten zu verdecken. Leider ist das keine Spezialität von Liberalen. Das Gefühl, wir erleben einen Umbruch, ist genauso unter Linken weit verbreitet. Auch ich teile die Untergangsstimmung. Warum? Hier wird es schmerzhaft: Die Vorstellung einer rechtsextremen Regierung ist in gewisser Hinsicht bequem. Ich habe sie nicht gewählt, mich gegen sie eingesetzt und weiß, dass ich ihre Verbrechen nicht verantworten muss. Doch was, wenn sie keinen Bruch darstellt? Wenn Blau-Schwarz business as usual bedeutet? Was dann?