(c) Martin Putz
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Die Fünfte Wand als Weiterführung der Dimensionalität

Auf ihrem neuen Album »Decomposition IV« entlocken Peter Kutin und Florian Kindlinger einer Panzerglasscheibe Frequenzen und Klänge, die in ihrer sonischen Geschlossenheit bedrohlich distanziert und abstrahiert klingen.

Im letzten Sommer wurde auf dem Vienna Shorts Filmfestival mit »The Fifth Wall« ein Film prämiert, der in seiner ekstatischen Wirkung den Saal des Metro-Kinos buchstäblich in Flammen aufgehen ließ. Peter Kutin und Florian Kindlinger, ihrerseits Klangkünstler, Komponisten und Mitbegründer von Ventil Records, setzten im leinwandfüllenden Format eine Panzerglasscheibe allerhand physischer Gewalt aus, die die Zuschauenden eindrucksvoll in die Position der Angegriffenen bringt. Dieser gedankenanregende, weil durchaus gesellschaftskritische Prozess wurde nicht nur in visueller Hinsicht dokumentiert, sondern auch akustisch genau aufgenommen. Mit spezieller Mikrofonierung konnten Töne und Frequenzen hörbar gemacht werden, die sonst außerhalb des menschlich fassbaren Spektrums liegen. Im Februar legen Kutin und Kindlinger nun mit »Decomposition IV« das neue, aus diesen entstandenen Klängen schöpfende Album vor, das mit den Konventionen der bisherigen Teile I–III in jeglicher Hinsicht bricht.

skug: Ganz zu Beginn und vielleicht auch ein wenig in der Retrospektive: Ihr habt die ersten drei »Decomposition« Stücke unter anderem in der Atacama Wüste, in einer Gletscherspalte nach dem Vorbild Alvin Luciers und schließlich in Las Vegas zusammen mit der deutschen Klangkünstlerin Christina Kubisch aufgenommen. Was kann man nun auf »Decomposition IV« hören?
Florian Kindlinger: Bei »Decomposition IV« geht es vor allem um eine kugelsichere Scheibe. Das Ganze hat als Filmprojekt angefangen. Die Idee war ursprünglich auch für das Theater konzipiert, das heißt, dass wir eine kugelsichere Scheibe zwischen die Zuschauenden und uns selbst bringen und damit performen und aufs Publikum »schießen« wollten. Dass das so nicht möglich ist, haben wir relativ schnell gemerkt. In diesem ganzen Prozess hat sich das dann in eine andere Richtung entwickelt und ist zum Filmprojekt mutiert. Wir haben tatsächlich eine kugelsichere Scheibe von 3 × 2 Metern konfektionieren lassen. Im Rahmen des Real Deal Festivals haben wir diese Scheibe dann in eine alte Werkshalle der ÖBB transportiert, dort aufgebaut und auch den Film »The Fifth Wall« realisiert. Es geht darin darum, dass die Scheibe immensen physischen Einwirkungen ausgesetzt wird. Die Scheibe steht hier natürlich als Metapher für die Stream-Gesellschaft. Der Prozess war der, dass wir die Scheibe zerstören, den Vorgang filmen und im selben Atemzug die ganzen Töne aufnehmen. Wir haben dabei mit speziellen Mikrofonen, sogenannten Akzeleratoren, gearbeitet, die normalerweise für Crashtests eingesetzt werden und in der Lage sind, Ultraschall- und Infraschall-Informationen aufzunehmen. Diese Töne haben wir dann ins menschlich hörbare Spektrum transponiert und in der Folge weiter damit gearbeitet.

Wie kommt man auf die Idee, eine kugelsichere Scheibe in eine ausrangierte Halle zu stellen, sie unheimlichen Gewalteinflüssen auszusetzen und diesen Prozess dann künstlerisch zu verarbeiten?
Peter Kutin: Die Initialzündung für den Gedankengang fand statt, als ich im Rahmen einer Residence in Sarajevo war. Das war 2015 und der Moment, in dem die Grenzen aufgemacht worden sind und die Flüchtlingsroute noch offen war. Viele Leute aus meinem Bekanntenkreis haben sich zu der Zeit persönlich engagiert und mitgeholfen. Ich habe das nur über soziale Medien im Sekundentakt mitbekommen, war zwar örtlich wahnsinnig distanziert, aber durch Facebook doch irgendwie dabei. Dieser Zustand hat mich nach drei Tagen des medialen Verfolgens, also physischer Abwesenheit und doch in mentaler Anwesenheit vor Ort zu sein, komplett ausgeknockt. Florian kam mich dann später besuchen und ich hab’ ihm das erzählt. Man schaut sich da die menschlichen Tragödien und Ausnahmezustände in Echtzeit mit nichts mehr als der Latenz der Datenübertragung an, ohne körperlich anwesend zu sein. Selbst wenn jemand im Krieg in Syrien erschossen wird und das filmt, was ja passiert, dann trifft mich diese Kugel nicht persönlich. Wenn ich im Internet Situationen beobachte, implementiert das für mich hinter dem Bildschirm eine Sicherheit. Solange ich das von anderen Personen Aufgezeichnete beobachte, bin ich sicher. Diesen Zustand umzudrehen, war die Idee hinter dem Projekt. Dann kommt natürlich auch der akustische Aspekt dazu. Für uns ist immer das Abwesende, das schwer zu Hörende oder menschlich nicht Fassbare interessant. Daraus haben sich dann diese zwei Schienen entwickelt. Zum einen die filmische Umsetzung und zum anderen die Scheibe als Klangkörper, die ja aus klanglicher Sicht ein toter Körper ist, also keine Eigenresonanz hat. Unsere Idee war also, diese Scheibe mit einer möglichst hohen Varianz an Einschlägen oder Erschütterungen zu konfrontieren, diese penibel aufzuzeichnen und später nur aus dieser Samplebank eine Platte zu machen, die an Clubmusik zumindest Anleihen nimmt, gleichzeitig aber musikalisch in sehr breite Richtungen streut.

(c) Peter Kutin

Der Bildschirm als kugelsichere, akustisch verarbeitete Panzerglasscheibe 
Kutin: Beim Film natürlich. Die Kinoleinwand ist die Scheibe, also quasi die Verdoppelung des Bildschirms, um den Effekt der Trennwand hervorzuheben. Es gibt ja diese Geschichten, dass sich bei den ersten Lichtspielaufführungen die Leute geduckt haben, wenn der Zug auf die Kamera losfuhr, was angeblich auch ein wenig geschichtsfälschend dargestellt wird. Aber eigentlich ist man im Kino immer nur durch den Inhalt, durch die Narration sentimental berührt, aber kaum einmal durch die bildliche Darstellung von Gewalt.

Kindlinger: Was ja auch irgendwie die Fortsetzung von der »Fifth Wall«, der Fünften Wand ist. Im Theater gibt es das ja sehr wohl. Nämlich in der Vierten Wand, die die Schauspieler zu brechen versuchen, indem sie durch ihr aktives Handeln das Publikum miteinbeziehen, um eine Nähe herzustellen, wobei sich die Zusehenden gleichzeitig in Sicherheit wähnen. Die Frage ist halt: Gibt es diese Sicherheit oder kommt man durch oder wird irgendwann der Punkt erreicht, an dem wir durchkommen, weil wir jetzt im digitalen Medienzeitalter in einem ähnlichen Kontext sind. Wir glauben zwar, dass wir diese Distanz haben, aber inwieweit gibt es diese Distanz oder inwieweit sind wir vielleicht tatsächlich bereits mitten im Geschehen drin? Die Idee war also auch, dieses Konzept der Vierten Wand in das multimediale Zeitalter miteinzubeziehen. Die Fünfte Wand ist dann eigentlich nur die Weiterführung des Ganzen. Der Versuch, diese Wand zu durchbrechen, ist irgendwo die Konsequenz, die sich aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraus ergibt.

Du hast den Begriff der Vierten Wand angesprochen, einen Begriff aus der Theaterwissenschaft, der die offensichtliche Fiktion bezeichnet, auf die sich die Zuschauenden einlassen, um das Gesehene zumindest im konkreten Moment als Realität wahrzunehmen. Ist das Einbrechen der Vierten Wand dann gleichzeitig das Aufziehen der Fünften Wand?
Kindlinger: Ich würde das so sehen, dass wir durch den Begriff der Fünften Wand noch eine Dimension addieren, weil wir uns in einem ganz anderen Raum bewegen. Die Scheibe an sich stellt ja keinen Raum oder Körper, sondern nur eine Trennwand dar. Es gibt den Raum davor und dahinter. Das Internet ist ja als Raum im Endeffekt auch nur imaginär und nichts weiter als nicht greifbare Datenmengen, die irgendwie durch den Äther schwirren. Aber was dargestellt wird und was wir uns als Information anschauen, das passiert tatsächlich. Die Fünfte Wand ist also in der Hinsicht eine Weiterführung der Dimensionalität. Wenn man sich den Film im Kino anschaut, sieht man, dass die Wand nicht einbricht. Wir zerstören sie zwar und sie verschwindet auch irgendwann, aber wenn der Film endet, sitzt man immer noch vor der Kinoleinwand. Wir spielen mit dieser Idee, wo bricht die Wand, bricht sie wirklich?

Kutin: Es ist nicht so, dass wir sagen, es ist eine logische Weiterführung und das muss jetzt die Fünfte Wand heißen. Es ist eher so, wir spielen den Ball an den Zuschauenden und fragen, was könnte denn diese Fünfte Wand sein? Wir stehen offensichtlich vor neuen Problemen in einem Umfeld, das sehr viel komplexer als ein Theater gestrickt ist. Die Fünfte Wand ist mehr ein Fragezeichen oder eben eine Frage an die Zusehenden. Wir stellen keine philosophische These an sich auf, sondern öffnen ein gedankliches Spielfeld für alle, die darauf einsteigen wollen.

Was ja wiederum zur Selbstreflexion anregen könnte. Der Film ist neben dem neuen Album in gewisser Hinsicht auch sehr gesellschaftskritisch. Als ich ihn letztes Jahr auf dem Kurzfilmfestival in Wien gesehen habe, stellte sich bei mir im Nachhinein ein gewisses Gefühl der Interpassivität ein. Das Gesehene ist, ähnlich wie die Informationsflut, die tagtäglich auf uns einströmt, mit einer Art eigener Hilflosigkeit verbunden.
Kutin: Für mich arbeitet der Film vor allem metaphorisch. Die Bilder sind abstrakt und stehen für etwas, das von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein kann. Wir geben keine richtige Thematik vor, und doch bilden sich für jede/n gewisse Bezugspunkte. Die Flamme (Anm.: am Ende des Films durch einen Flammenwerfer hervorgerufen) haben viele Leute als Revolutionsgedanken aufgenommen, aber das heißt für uns gar nichts. Das ist einfach eine Flamme, die für uns eine Scheibe einschmilzt. Das schaut wunderschön aus und ist eine kinematographische Metapher. Um was es geht, ist sehr individuell fassbar. Jede/r reagiert da sehr eigen darauf, aber darum geht es uns auch. Ich glaube, man sollte das nicht so sehr als medial fokussierte Arbeit sehen, sondern als ästhetische Metapher für ein Problem, das vor allem in der digitalen Kultur auftritt – und für die es de facto noch keine wirkliche Antwort gibt.

Kindlinger: Wenn die Sensibilisierung stattfindet, dann ist es eh schon gut. Und das reicht dann auch schon. Ich würde mir jetzt auch keine andere Auslegung wünschen, auch wenn man die Arbeit auf sehr viele Arten sehen kann.

(c) Edward Chapon

Wenn wir jetzt vom Film ein bisschen weg gehen. Wie kann man sich die künstlerische Zusammenarbeit zwischen euch beiden eigentlich vorstellen?
Kutin: Das ist ein wenig so wie bei Sparring-Partnern. Irgendwer kommt mit einer Idee und gibt sie weiter und dann kommt irgendwie wieder irgendwas zurück. Wir arbeiten ja schon sehr lange zusammen und dadurch wird das in der Kommunikation alles sehr vereinfacht. Je besser man seinen Buddy kennt, desto weniger verbale Ausdrücke braucht man und das ist genau der Vorteil von langjährigen Kooperationen. Das kann also sehr exzessiv sein oder auch konzentriert.

Kindlinger: Es hat sich auf eine gewisse Art verselbstständigt und es beschränkt sich auch nicht nur auf einen Teil unserer Arbeit – von Projekt zu Projekt hantelt sich das so weiter und schaukelt sich mal mehr auf und mal weniger. Vor allem aber ergibt sich die Zusammenarbeit aus den alltäglichen Tätigkeitsfeldern heraus. Wir arbeiten miteinander und auch getrennt voneinander.

Inwiefern unterscheidet sich der Prozess des Albums »Decomposition IV« von der ihm vorausgehenden filmischen Arbeit zu »The Fifth Wall«?
Kutin: Die erste Entscheidung ist immer – auch in allen Teilen der bisherigen Serie – die drastische Reduktion der zur Verfügung stehenden Mittel, um Musik zu machen. In unserem Fall reduziert sich die Samplebank zuerst einmal auf jene Klänge, die innerhalb des Films aufgezeichnet wurden, und dann geht das Experimentieren los. Man sucht Möglichkeiten, den Klang zu verändern, zu arrangieren und Spannung zu erzeugen. Bei uns ergeben sich relativ schnell mal Stücke und die Lust war groß, irgendwie was in eine konkrete Musikrichtung zu machen und nicht dezidiert die dogmatische Abstraktion der Klangkunst zu verfolgen. Das Material hat jedenfalls viel vorgegeben. Wenn z. B. ein Ball auf die Scheibe geprallt ist und sie resoniert, hat das Material eher einen dronigen Klang ergeben. Wenn man den dann tonal unterschiedlich stimmt, ergibt sich auch eher eine flächigere Nummer oder zumindest ein flächigerer Aufbau. Wir haben uns also auf jeden Fall vom Material leiten lassen.

Kindlinger: Im Gegensatz zu den vorherigen Teilen ist es so, dass die Scheibe an sich erst einmal gar nichts tut. Alles, was in dem Zusammenhang vom Material kommt, bedarf zuerst einer Form der Einflussnahme. Bei den vorherigen »Decomposition« Teilen ist ja immer etwas passiert. Die haben im Grunde genommen etwas Dokumentarisches gehabt und das Dokumentarische hat auch immer eine gewisse Zeit mit sich gebracht. Entweder es war der Wind, oder die fortschreitende Resonanz in der Gletscherspalte oder die elektromagnetische Spannung in Las Vegas. Ausgehend vom toten Material haben wir beim vierten Teil diese Zeitebene selbst schaffen müssen.

Ihr habt auf einem Stück auch mit der britischen Künstlerin Elvin Brandhi zusammengearbeitet. Sie selbst betreibt auch das Bandprojekt Yeah You mit ihrem Vater zusammen. Wie kam es zu dieser gemeinsamen Zusammenarbeit?
Kutin: Ich hab’ ein paar Konzerte von ihr gesehen und mir dann gedacht, dass das für die Platte ganz gut wäre. Die bisherigen Teile von »Decomposition« wurden gerne mal als etwas Akademisches abgetan. Daher wollten wir da voll dagegen grätschen. Nachdem ich die Konzerte von Elvin Branhi gesehen hab’, haben wir uns gedacht, dass das viel besser für den Track (Anm.: »I Throne«) passt. Wir haben sie angeschrieben, getroffen und sie hat uns dann Vorschläge aufgenommen. Jetzt ist diese Riot-Nummer auf der Platte und ich find das auch sehr erfrischend.

»Decomposition IV« erscheint am 2. Februar 2018 auf Ventil Records. Am 30. Jänner stellen Florian Kindlinger und Peter Kutin das Album in voller Länge und live im Wiener Rhiz vor.

Link: https://kutinkindlinger.com/

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