Frankreich, 1770. Malerin Marianne (Noémie Merlant) soll die junge Héloise (Adèle Haenel), Tochter aus gutem Hause, für ihren zukünftigen Verlobten, den sie noch nie gesehen hat – die Ehe ist arrangiert – porträtieren. Eine Aufgabe, an der vor ihr schon ein Maler gescheitert ist, denn Héloise weigert sich, Modell zu sitzen, und ist auch von der Aussicht auf eine Heirat wenig angetan. Fernab von allen weltlichen Dingen in einem Kloster erzogen, sträubt sie sich gegen das ihr zugedachte Rollenbild als zukünftige Ehefrau und Mutter. Viel lieber würde sie sich weiterhin der Musik und Literatur widmen, wie sie es im Kloster getan hat. Marianne spielt also die Gesellschafterin für Héloise, sie begleitet sie bei ihren täglichen Spaziergängen auf der bretonischen Insel, beobachtet die junge Frau, prägt sich ihre Mimik und Gestik ein und fertigt aus ihren Skizzen heimlich ein Porträt an. Als es vollendet ist, gesteht sie Héloise die Scharade und präsentiert ihr das Bildnis, doch diese ist nicht nur vom Verrat der vermeintlichen Freundin enttäuscht, sondern auch von dem Porträt, in dem sie sich nicht wiedererkennt, weil sie »nicht gesehen wird«. Marianne nimmt die Kritik an, zerstört das Werk und beginnt von vorne. Und diesmal willigt Héloise ein, sich malen zu lassen.
In der Folge verschiebt sich der voyeuristische, vor allem im Hinblick auf den Zweck des Porträts »männliche« Blick von Marianne hin zu einem Blick auf das wahre Wesen von Héloise, einem Wahrnehmen aller ihrer Nuancen abseits von Linien und Schattierungen. Héloise erwidert diesen Blick, wird selbst von der Beobachteten zur Beobachterin, vom passiven Objekt zum aktiven Subjekt, und im gegenseitigen Ansehen und Erkennen der beiden Frauen entspinnt sich eine leidenschaftliche Romanze ebenso wie ein flammendes Aufbegehren gegen das enge Korsett des Patriarchats, in dem Malerinnen nicht alle Motive erlaubt sind, Abtreibungen im Alleingang durchgeführt werden und die Liebe zweier Frauen letzten Endes zugunsten gesellschaftlicher Konventionen auf der Strecke bleibt.
Was auffällt: Im ganzen Film gibt es so gut wie keine männlich besetzte Rolle – zumindest keine, die etwas zu sagen hätte – und neben den Darstellerinnen ist auch das Filmteam rund um Regisseurin Céline Scimma, die in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, weitgehend weiblich besetzt. Der Q&A-Moderator bei der Viennale-Vorführung am 25. Oktober spricht von einem »Mikrokosmos der Frauen« und wird von Hauptdarstellerin Adèle Haenel unterbrochen: 50 Prozent der Bevölkerung sind kein Mikrokosmos, meint sie. Umso bezeichnender, dass ein Film von Frauen über Frauen – wenn auch nicht nur für Frauen – auch 2019 noch ein Kuriosum darstellt. Doch abseits vom Spiel mit den Geschlechterrollen und Jahrhunderte übergreifender Gesellschaftskritik ist »Portrait de la jeune fille en feu« vor allem ein einfühlsames und berührendes Porträt einer Liebesgeschichte mit zwei großartigen Hauptdarstellerinnen, das der Viennale 2019 einen würdigen Auftakt beschert hat. Prädikat: Sehenswert!
Link: https://www.viennale.at/de/film/portrait-de-la-jeune-fille-en-feu