Eigentlich war die New Yorker Psychotherapeutin Galit Atlas ja ursprünglich eine israelische Musikerin. Ihre Mutter war aus Syrien nach Israel emigriert, der Vater aus dem Iran. Ihre Eltern hatten mit Armut und Rassismus zu kämpfen. Wie viele andere Familien befand auch ihre, dass »Schweigen die beste Möglichkeit war, alles Unangenehme zu tilgen. Damals dachte man, dass das, woran man sich nicht erinnerte, auch nicht weh tun könne.« Atlas wuchs im Schatten des Holocausts auf, schreibt sie in ihrem Buch »Emotionales Erbe. Eine Therapeutin, ihre Fälle und die Überwindung familiärer Traumata«. Sie wunderte sich anfänglich über unbewusste Weitergaben und Übertragungen: »Aber was ist, wenn das, woran man sich nicht erinnert, in Wahrheit doch erinnert wird, auch wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt? Ich war das erste Kind meiner Eltern und ihre traumatische Vergangenheit lebte in meinem Körper fort.«
Angst und Normalität
Mit neunzehn Jahren fährt Galit Atlas im Zuge des verpflichtenden Militärdiensts mitten im Golfkrieg mit ihrer Band zu unterschiedlichen Einheiten. »Ich diente als Musikerin in der Armee und betete für den Frieden, während ich von einem Stützpunkt zum nächsten fuhr und für die Soldaten sang.« Den jungen Soldaten kamen während der Konzerte oft die Tränen. »Unsere Musik drückte viel von dem aus, was niemand laut sagen konnte: dass wir Angst hatten, das aber nicht einmal vor uns selbst zugeben durften. Dass wir ein normales Leben wollten, aber gar nicht wussten, was ›normal‹ bedeutete.« Später, als Therapeutin in New York, resümiert sie über diese Zeit: Laut zu singen wäre befreiend gewesen und »der Beginn meiner Suche nach Wahrheiten, meines Versuchs, das emotionale Erbe, das in mir schlummerte, offenzulegen«.
In New York war Galit Atlas erstaunt, wie viele Kinder und Enkel von vor dem Holocaust Geflüchteten bzw. Ermordeten sie in ihrer Praxis vorfand. Ein Phänomen überraschte sie im Zuge der Therapien immer wieder: »Die ererbten Gefühle der unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern waren die Phantome, die in ihnen lebten, die Geister des Ungesagten und Unsagbaren.«
Im Buch ordnet sie die Lebensgeschichten ihrer Patient*innen in die Teile »Unsere Großeltern. Von den Vorgängergenerationen geerbtes Trauma«, »Unsere Eltern. Die Geheimnisse anderer« und in »Wir selbst. Den Teufelskreis durchbrechen«. Ein Mann hat wiederholt schreckliche Alpträume, in denen er unter der Erde gefangen ist, bis er im Laufe der Therapie herausfindet, dass sein eigener Großvater lebendig begraben wurde. Dann hören die Träume auf, denn der Körper braucht ihn nicht mehr an unbewusste Vorgänge zu erinnern. Eine Frau zeigt plötzlich die schlimmsten körperlichen Symptome, als sie schwanger wird, und findet in Israel mühselig heraus, dass ihr Großvater in Auschwitz seine erste Frau und sein erstes Baby verlor. Ein Geheimnis innerhalb der Familie. Sie entscheidet sich allen familiären Warnungen zum Trotz, ihrem Baby den Namen des von den Nazis ermordeten Kindes zu geben: Ruth.
Die Zähne stumpf
Dem Buch voran steht ein Zitat aus Jeremia 31:29, das Galit Atlas ihr Arbeitsantrieb zu sein scheint. »In jenen Tagen sagt man nicht mehr: ›Die Väter haben Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne stumpf‹«, wünscht sie sich. Wobei Atlas meint, dass »nicht die Toten uns verfolgen, sondern die Lücken, die die Geheimnisse anderer in uns hinterlassen haben. Das, was wir nicht wissen dürfen, verfolgt uns, bleibt rätselhaft und macht uns untröstlich.«
Eine kleine Kritik an dem Buch wäre vielleicht, dass die Psychotherapeutin den mittlerweile inflationär verwendeten Begriff »Trauma« für menschliche Schäden verwendet, die in der Trauma-Forschung als »Extrem-Traumata« bezeichnet werden. Atlas beschreibt manchmal Phänomene, die an eine »Dissoziative Identitätsstörung« erinnern – wie zum Beispiel bei ihrer Patientin Eve: »Sie wirkt oft dissoziiert, sieht zum Fenster hinaus«, »Eve ist häufig abwesend« oder »Manchmal, wenn sie mich mit den Augen eines jungen Mädchens anschaut, wirkt sie verloren«. So genannte »Innere Figuren« zeigen sich der Therapeutin, eine Aufspaltung wird sichtbar. Psychotherapie- und Extrem-Traumata-Forscher*innen scheinen sich aber leider international nicht wirklich über ihre Erkenntnisse auszutauschen?
Die ungeheuerlichen und zerstörerischen Folgen von Gewalt, von Anschlägen auf das Leben und von Todesangst benennt die israelische Universitätsprofessorin Yolanda Gampel mit dem Begriff »Radioaktivität des Traumas«. Nachfahren werden sozusagen »verseucht«, ohne es bewusst wahrzunehmen. Es helfe aber sehr, wenn man den verstörenden Bildern, die nicht wenige schon seit Kindheitstagen mit sich herumtragen, eine passende Geschichte hinzufügen kann. Die Recherche der eigenen Familiengeschichte wird zum unverzichtbaren Teil der Gesprächstherapie, um den Körper zu entlasten.
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/atlas-emotionales-erbe-9783832181253/