Der hochpolitische Dialektliedermacher Sigi Maron, verstorben am 18. Juli 2016, wäre am 14. Mai 2024 80 Jahre alt geworden. Herausgeber*innen des Sammelbands sind Margit Niederhuber, Autorin, Dramaturgin und Aktivistin, die im Mandelbaum Verlag Bücher zu Nairobi, Johannesburg, Dakar und Maputo sowie Jura Soyfer publizierte, und Walter Gröbchen, einst »Musicbox«-Redakteur und u. a. Eigner des Labels Monkey Music, das Marons Spätwerk veröffentlichte. Beide sind prädestiniert dafür, das Leben und Werk des Giganten des politischen Protestdialektlieds, das eher wenig mit dem kommerziell erfolgreicheren Austropop gemein hat, einzuordnen. Gröbchen, Niederhuber und die zahlreichen Autor*innen, die die Vielfalt des linken Kulturspektrums der Alpenrepublik spiegeln, haben mit »Redn kaun ma boid – Sigi Maron Lesebuch« dem künstlerisch wie menschlich großen Sigi Maron ein würdiges Denkmal in Buchseitenform geschaffen.
Um Sigi Maron mit einer Buchrezension gerecht zu werden, ist die Form eines Long-Reads unabdinglich. Erhellende Fundstücke gibt es in prächtiger Lebensfülle, die Franz Christian Schwarz, Berater in Sachen »Austropop« für diverse Plattenfirmen, in seiner Verneigung mit dem Titel »Der unbezähmbare Widerspenstige« auf den Punkt bringt: »Unglaublich, ein Mann im Rollstuhl mit so viel Kraft und Visionen. Vehement trat er stets gegen rechtes Gedankengut, Atomkraft, Behörden- und Beamtenwillkür, Bigotterie, Rassismus, Ignoranz gegenüber nicht zu leugnenden Tatsachen und Volksverdummung ein. Sein Einsatz für mehr Frieden, Menschlichkeit, Toleranz im Umgang mit Minderheiten, Bedürftigen und Behinderten sowie Umweltbewusstsein brachten ihm die Schelte der Ertappten, aber ungeteiltes Lob der Betroffenen ein.«
»Der unbezähmbare Widerspenstige« und die Medien
Gröbchen sichtet eingangs mit Ulrike Bierlein, Leiterin der Sammlung des populärwissenschaftlichen Archivs der Wien Bibliothek, den Nachlass des eindringlichsten Protestliedsängers Österreichs. Ein Konvolut an Dokumenten und Zeitungsausschnitten gibt wieder, welch bedeutende Person Maron in der linken Kulturszene war. Ein wider inhumane bzw. ungerechte politische Macht löckender Stachel, den der »Kurier« angesichts des Chart-Erfolgs seines versteckt einen verzweifelten Suizid schildernden »Geh nu ned furt« folgendermaßen schlagzeilte: »Ein Linksaußen in der Hitparade, gefördert von Heller und Turrini.« Als der ORF noch nicht von Privatmedien unterboten werden konnte, schrieb Peter Weibel 1982 im »Falter« von einer »Musik- und Mediendiktatur«. Gemeint war Ö3, das weder »Sex in der Stadt« des Hotel Morphila Orchester spielte, noch viele politische Maron-Songs, die aufgrund deftiger Fäkalausdrucke verpönt waren: »Im ORF wurden auf Ö3 hauptsächlich ›Liedermacher‹ mit Kitschsongs repräsentiert, die heute gern gesehene Gäste beim Musikantenstadl sind. Die politische Liedermacherszene hingegen wurde nahezu verschwiegen, obwohl bei deren Veranstaltungen die Säle meistens bummvoll waren«. bemerkt Schriftsteller Gerald Grassl in seinen »Erinnerungen an einen hoch politischen Liedermacher«.
Welche Rolle Sigi Maron in der Szene hatte, bezeugt Songwriter-Partner Fritz Nussböck, der mit ihm sogar ein Lied für die Stoakogler, die beim selben Label wie Maron waren, schrieb: »Er war einfach, ich würde sagen, der wichtigste. Er war sehr überlegt, er hat zwar gesagt, ›du Oaschloch, du bledes‹, aber er hat niemanden rational beleidigt, so war er nicht. Schimpfen schon, aber nicht beleidigen. Seine Leider sind fürs Allgemeinempfinden wichtig, seine ›Mizzitant‹ war einfach witzig. Und ›Leckts mi am Oasch‹ überhaupt.« Was wiederum zu Gerald Grassls »Waun da Sigi no wär’ …« (so die Headline) führt. Weil eben Kritik an selbstherrlicher Politik bitter nötig ist, 1976 anlässlich der Arena-Besetzung an die Rathaus-SPÖ adressiert: »Poldi, Poldi (auf den damaligen Wiener Bürgermeister Leopold Gratz gemünzt), des gaunze Scheißhaus steht in Flammen, unsna Oasch is in Gefoah!« Dass Maron selbstverständlich auch viele wunderschöne, zarteste Liebeslieder schrieb und auch Atomkraft-Kritik herzergreifend (»Triabes koides Wossa«) verpacken konnte, führte verspätet immerhin doch zu Radio-Airplay.
Zorn und Empathie – kein Widerspruch
Das beinahe 300 Seiten starke »Sigi Maron Lesebuch« schildert vielerlei Facetten aus dem Leben des stets politisch wachen Originals, das in Baden bei Wien seinen Lebensmittelpunkt hatte, doch mit seinem unbändigen Zorn wider die Ungerechtigkeit der Welt weit über Wien hinaus bis nach Ostdeutschland ausstrahlte. Seine Kinderlähmung, die ihn an den Rollstuhl fesselte, führte zu einer Abrechnung mit allem und allen, denn selbstverständlich war Barrierefreiheit zu Marons frühen Lebzeiten keineswegs üblich (»Guten Morgen, Herr Architekt«) und Sigi, der durchaus auch gewisse Macho-Allüren hatte, dehnte diese visionär aufs weibliche Geschlecht aus: »Gleichberechtigt«, mit dem klasse Refrain »Jessas na, a Frau am Pissoir«. Nicht zu vergessen Sigis Einfühlungsvermögen in psychisch Erkrankte. Es gemahnt an die »Lunatic«-Songs seines Freundes Kevin Coyne, und das ultratraurige Lied vom »Leo« – die Lyrics sind auf Seite 56/57 abgedruckt –, eingespielt mit den Coyne-Musikern Paul Wickens und Bob Ward auf dem in London aufgenommenen Album »05 vor 12« (1981), ist wirklich zutiefst herzzerreißend.
Berührend auch die Textbeiträge aus seiner Familie (Bruder Otto, Frau Ingrid) inklusive einem aufschlussreichen Interview mit seinen Töchtern Nina und Karin, die Sigi Maron als Hausmann hauptsächlich betreute. Sie sprechen von sehr empathischen Eltern und schildern, dass die Kinder, mit denen sie im Hof spielten, nicht das Anderssein des im Rollstuhl sitzenden Liedermachers verstanden hätten, geschweige denn Lehrkräfte oder Polizisten. So musste sich etwa Karin für die ordinären Lyrics ihres Vaters vor einer Volksschullehrerin rechtfertigen und hatte eine Mathelehrerin ein korrektes Schularbeitsbeispiel nicht als richtig anerkannt, weil sie Tochter eines Kommunisten war. Und Nina berichtet von einem Geschichtelehrer, der KZ-Verleugner war. Ihre Eltern bestärkten sie im Kampf gegen derart reaktionäre Personen und auch die Berufswahl erscheint aufgrund der Freiheit, die ihnen Sigi und Ingrid ermöglichten, logisch. Nina wurde Malerin, Karin Krankenschwester …
»Traiskirchner Weinfest«
Ganz wesentlich sind Marons im weiten Spektrum von Wut bis Zartbesaitetheit changierenden Dialektlied-Lyrics, die mit Schwarz-Weiß-Fotos oder Plakatabbildungen, welche die Textstrecken auflockern, eingestreut werden. Reichend von »Klane Leit« bis zur zornigen »Ballade von ana hoatn Wochn«, die bei Live-Konzerten immer im befreienden Slogan »Leckt’s mi am Oasch« gipfelte. Rechthaberei und Egoismus (»Da Hausmasta«) waren dem bekennenden Proleten und Kommunisten Maron zutiefst zuwider, was sich im »Traiskirchner Weinfest« bestürzend äußert. Wegbegleiter Erich Demmer analysiert diesen aus dem Sammelband »Umgevolktes Österreich … Satiren gegen Ausländerfeindlichkeit« (Promedia Verlag, 1993) stammenden Maron-Text treffend: »In dieser Fülle von wahllos aneinander gereihten Beobachtungen zeigt sich die Tristesse eines voll durchkommerzialisierten Volksfestes, das wohl keinen der Teilnehmenden über den Tag hinaus in Erinnerung bleiben wird. Man könnte es als mit leiser Ironie versehenes Dokument der lauten Entfremdung lesen. Als einen Essay ›von unten‹«.
Andreas Babler, SPÖ-Bundeskanzler-Kandidat, weiß im Gegensatz zu manchen Granden der Sozialdemokratie um die Sorgen von Mittelstand und Unterschicht. Die integrative Leistung, die Babler als SP-Bürgermeister von Traiskirchen (im Büro hängt ein Porträt von Sigi Maron) vollbrachte, erscheint angesichts dieses Essays umso bewundernswerter. Ein Zitat aus Bablers langer Hommage an seinen Freund, »Da Sigi wo ka Hosnscheißa«, skizziert auch seinen eigenen Solidaritätszugang: »Er beeindruckte mich vor allem durch seine Gabe, Dinge auch in kurzen Ausführungen wirksam und nachhaltig auf den Punkt zu bringen. Die ganz spezifische, große Fähigkeit von Sigi dabei war, von der Lebensrealität unserer Leute von unten ausgehend gleichzeitig auch international groß zu denken …« Irgendwie beginnt mensch zu verstehen, warum kapitalanbetende Funktionäre, wirtschaftsliberale Medien und nicht nur der reaktionäre Boulevard Andreas Babler die Fähigkeit absprechen, Österreich aus dem politischen Irrweg herauszuziehen. Angesichts des Primats transnationaler Konzerne über die Politik und des grassierenden Symptoms des scheinbar Heil bringenden Rechtspopulismus, der diese Welt am Abgrund mit Nationalismus und Abschottung keineswegs überwinden wird, fehlt eine Stimme wie jene Sigi Marons mehr denn je.
»Faschismus ist keine Meinung«
Sehr erfreulich aber ist, dass weitaus jüngere Künstler*innen an Marons Werk anschließen. Hier Mieze Medusa (kursiv) & Yasmin Hafedh (nicht kursiv) alias Team MYLF (Mothers You’d Like To Flow With) mit delikaten Strophen aus ihrem Battle-Rap »Faschismus ist keine Meinung«:
Alle immer, leben tut weh und muss ernst sein
Der Kanzler gibt den Reichen, hasst Europa, redet die Kunst klein
Schau ins Land, reiner Wein muss nicht gechillt sein
Alle immer Angst und dann der Neid, so muss Provinz sein
Alle immer Angst, dass alles immer anders wird
Alle immer »haha«, wenn wer stolpert, weil er ausprobiert
Alle immer schadenfroh, trau mich nicht und sparefroh
Alle immer hart gegen sich, wir gehen hart ins Gericht
Wir haben Träume, doch ich frag mich wo
…
Alle gegen jeden, neoliberal for life
Wir wollen eine Welt, die für alle reicht
Keinen Wutschrei, eine Welt, in der niemand mehr gewaltbereit
In Springerstiefeln nach Liebe schreit
Das geht an alle, egal ob jung oder Senioren
Jeder Mensch ist frei und gleich an Würde und Rechten geboren
Kafkaeskes »Schmelzwasser«
Schlussendlich sei noch auf Fritz Schindleckers »Anempfehlung eines Romans« verwiesen. »Schmelzwasser«, Sigfrid Marons Abrechnung mit der Shareholder-Value-Major-Industrie – Preisgabe seiner Plattenfirma Ariola, die seine Alben veröffentlichte und bei der er als EDV-Spezialist arbeitete, an den Weltkonzern Sony – hat es in sich. Zahlreiche Nebenstränge wie Zeitreisen u. a. in seine Kindheit, als er an Kinderlähmung erkrankte, oder behördliche Willkürschilderungen sind probate Erzählmittel wie auch Kapitelanfänge mit Sprichwörtern oder Aphorismen: »›Den Arsch vergolden‹ gewinnt angesichts der Abfindungen an erfolglose Manager eine vollkommen neue Bedeutung« (Manfred Grau, deutscher Betriebswirt und Publizist).
Marons Faible fürs Groteske regte auch den Autor dieser Zeilen, der die Lektüre von »Schmelzwasser« noch in lebhafter Erinnerung hat, zu mehr als Schmunzeln an und Schindlecker befindet im Kafka-Gedenkjahr: »Ich bedachte bei der Lektüre oft den fürchterlichen Ernst und konnte weilchenweise vor Lachen nicht weiterlesen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich will damit Sigfrid Maron nicht in den Franz-Kafka-Rang heben. Aber lesenswert ist dieser Roman allemal. Auch wenn der Autor im Gegensatz zu heimischen Größen wie Gertrud Fussenegger, Franz Karl Ginzkey, Rudolf Henz, Max Mell oder Karl Heinrich Waggerl nie einen Literaturpreis bekommen hat. Womit er allerdings mit Franz Kafka noch etwas gemeinsam hat …«
Link: https://www.mandelbaum.at/buecher/margit-niederhuber-walter-groebchen/redn-kaun-ma-boid/