Black Ox Orkestar: Scott Gilmore, Thierry Amar, Gabriel Levine, und Jessica Moss (v.l.n.r) © Stacy Lee
Black Ox Orkestar: Scott Gilmore, Thierry Amar, Gabriel Levine, und Jessica Moss (v.l.n.r) © Stacy Lee

Black Ox Orkestar erforschen ihr jiddisches Erbe

»Everything Returns« markiert die unerwartete Fortsetzung eines kurzlebigen Œuvres, das als besonders strahlkräftiges, wenn auch weniger bekanntes Kleinod im Back-Catalogue von Constellation Records galt. Über die Rückkehr des geschichtsbewussten Avantgarde-Klezmer von Black Ox Orkestar.

»Wir leben in unserer Sprache wie Blinde, die am Rande eines Abgrunds wandeln. Diese Sprache ist mit zukünftigen Katastrophen beladen. Der Tag wird kommen, an dem sie sich gegen diejenigen wenden wird, die sie sprechen«, soll der Historiker Gershom Sholem im Dezember 1926 geschrieben haben, als die Katastrophe, die die jüdische Diaspora noch weiter über die Welt versprengen sollte, nicht mehr weit war. Knappe 80 Jahres später druckte eine aus dem unmittelbaren Dunstkreis der legendären Montréaler Postrock-Kapelle Godspeed You! Black Emperor (GY!BE) entstiegene Band namens Black Ox Orkestar dieses (so nicht verifizierbare) Zitat ins Artwork ihres Debüts »Ver Tanzt?«. 

Musikalische Explorationen in der Sprache der Vorfahren

Jüdisch-religiöse Framings waren da bereits in frühen Releases von GY!BE und A Silver Mt. Zion zugegen, wenn auch mehr in loser Assoziation. In dem Bandprojekt Black Ox Orkestar fand ein Teil der Godspeed-Clique ein Ventil für den Wunsch, das kulturelle Erbe ihrer Vorfahren auf authentische Weise zu rezipieren. Ein Stück weit jenen Menschen näherzukommen, die aus Mittel- und Osteuropa nach Nordamerika auswanderten. Mitte der 2000er erwuchsen daraus zwei Studioalben von modern interpretiertem Klezmer mit Einflüssen von der Levante bis Osteuropa. Dank der Verflechtung mit GY!BE war über das Label Constellation Records der Zugang zu einem internationalen Publikum gesichert. Auf »Ver Tanzt?« und »Nisht Azoy« fanden sich einerseits Interpretationen von traditionellem Gypsy-Folk mit teils beschwingtem Balkan-Flair, andererseits melancholische Eigenkompositionen. Für den Gesang zeichnet Scott Gilmores (ehemals auch in A Silver Mt. Zion tätig) verantwortlich, in der Sprache, von der bei Sholem die Rede war – dem Jiddischen. Gerade für Deutschsprachige lohnt sich genaues Hinhören und Mitlesen – oft wird das Naheverhältnis des zunächst eher slawisch klingenden Jiddisch zur eigenen Sprache offensichtlich (»Papir iz dokh vays, un tint iz dokh shvarts«). Thematisch reichte die Bandbreite von Liebesliedern bis hin zu jüdisch-religiöser Mystik (»Golem«). Gabriel Levine (ehemals bei Sackville), Jessica Moss (GY!BE, A Silver Mt. Zion), und Thierry Amar (GY!BE) steuerten mit Streichern und Klarinetten die für jiddische Folk-Balladen nötigen Klänge bei – mit dem hörbaren Einschlag aus der lokalen experimentellen Indie-Szene.

Über die Grenzen, von Ost nach West

»Everything Returns« markiert also die Rückkehr einer Bandformation, die mutmaßlich vielen Fans von epischer Rockmusik einen Zugang zu jüdischer Volksmusik ermöglicht hat. Dass dieser Einfluss nun wieder aktuell wird, haben wir wohl dem Journalisten Jacob Plitman von »Jewish Currents« zu verdanken, der die Band anlässlich eines Interviews auf den Geschmack gebracht hat, das alte Passionsprojekt wiederzubeleben. Es ist eine Freude, zu hören, dass sich Black Ox’ Zauber bruchlos ins Jahr 2022 übertragen hat. Wie auf seinen Vorgängern ist auf »Everything Returns« traditionelles Klezmer-Material zu finden. Dazu gehören Interpretationen moldawischer und ukrainischer Reigen oder ein »Tish Nign«, eine Art Tischgebet in Form eines Gruppengesangs, das statt aus Wörtern aus bedeutungslosen Silben besteht. Die aus Gilmores Feder stammenden Originale fokussieren sich auf Flucht, Migration, und Entwurzelung. Von West nach Ost und von Ost nach West (»Mizrakh Mi Ma’arav«) strömten und strömen Menschen über Grenzen, in gewisser Weise wiedergeboren und dennoch für ein Leben lang belastet durch das erlittene Trauma, das auch nachfolgende Generationen oft nie ganz abschütteln können (»Epigenetik«). In »Perpetual Piece«, dem ersten Black-Ox-Stück, dem zum Jiddischen auch Englisch und Französisch beigemischt wird, erzählt Gilmore die Geschichte seines Großvaters, der 1906 aus Riga flüchtete, nur um im brutalen Montréaler Winter auf der Straße zu erfrieren. Es war kein Hass im Aufnahmeland, der ihm das Leben kostete, sondern Indifferenz, singt Gilmore, um dann Bezug zu nehmen auf Kants berühmte Schrift »Zum Ewigen Frieden«. Wahrlich fern scheint der Weltfrieden jedoch in einer Welt, in der das Fehlverhalten einer kleinen Gruppe von Akteur*innen dramatische Konsequenzen haben kann, wie in »Lamed-Vovnik« angesprochen wird: »One flaw, one crack in the temple wall, one fuck up and that’s all. Everything falls.« 

Ein mahnendes, emotionales Comeback

Viele Konflikte sind entbrannt, viele Fluchtbewegungen provoziert und Revolutionen niedergeschlagen worden seit dem Erscheinen des letzten Black-Ox-Albums. Die Geschichte wiederholt sich, scheinen uns die Songs auf »Everything Returns« mitgeben zu wollen. Die ausgegebene Devise lautet hin- statt wegschauen und Verantwortung übernehmen für das eigene Handeln, wenn sich schon die Welt nicht ändern lässt. 2022 bringen Black Ox ihr in der Botschaft deutlichstes Album heraus – und dank der einfühlsamen, unvoyeuristischen Auseinandersetzung mit Flucht, Verzweiflung und Hoffnung ihr menschlichstes und zugänglichstes. Das Black Ox Orkestar kehrt zurück mit einem derartigen Grad an Leidenschaft, als stünde da kein 16-jähriger Bruch in der Bandgeschichte, und mit einer emotionalen Potenz, dass einem bei der wundervollen Piano-Ballade »Viderkohl (Echo)« die Tränen kommen mögen. Selbst wenn die Welt nach einem Schicksalsschlag bleiern widerhallt wie ein leer Raum: Jede Neuankunft bietet Trost – in der Chance auf einen Neuanfang und auf Wiederaufbau.

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