Lonnie Holley ist einzigartig. Bereits auf seinem Vorgängeralbum »Mith« (2018) hat der Musiker/Künstler seinen Kosmos auf Erden eingenommen: Der spät entdeckte Afroamerikaner sang davon, sich einst wieder in ein Staubkorn im All zu verwandeln, und kost auf »Oh Me Oh My« in »I Can’t Hush« unseren Planeten Erde als schonend zu behandelndes »Mother Ship«. Doch all die Unbill, die es zu ertragen galt und gilt, ist nicht gottgegeben und will er nicht für sich behalten. Mama und Oma, die ihr Leben lang über die erlittenen Schmähungen und Missbräuche schwiegen, sind tragende Säulen in seinem Leben und folglich auch in vielen seiner Gospel nahestehenden Songs. »I Can’t Hush« beharrt darauf, dass der Mensch Emotionen haben und nicht verstecken soll und strahlt eine innere Ruhe aus, die hier mit Jeff Parkers ausfadenden Gitarrendrones berückt und dank Jacknife Lees Instrumentarium (meist Piano, Keyboards, Bass, Synthesizer und Programming) in ungeahnte Sphären vordringt.
Verzweiflung bündeln, Hoffnung geben
Ausgerechnet Jacknife Lee, der irische Produzent, der von U2 und R.E.M. über The Killers und Editors bis Taylor Swift und Beth Ditto mit vielen wesentlichen Größen des Musikbiz gearbeitet hat, verinnerlichte absolut, was die Musik von Lonnie Holley ausmacht: Sie bezieht ihre Kraft aus einer Spiritualität, die im Gospel wurzelt, all die Verzweiflung dieser Welt bündelt und doch Hoffnung gibt. Bereits der Opener »Testing« gibt die Richtung vor. Das Lied geht tief, sehr tief in die Seele und doch führen Lichtstrahlen aus dem depressiven Wellental heraus und daraus schält sich eine Auferstehung der nach Glück und Wonne strebenden Art. Begleitet von federndem Kontrabass, forschen Horns und Drums, feiert Lonnie Holley an seinem Mellotron das Leben und Camae Ayewa alias Moor Mother betont in »I Am A Part Of The Wonder« mit glasklarer Feenstimme empowernd den Stolz auf Blackness. Fantastisch swingt auch »Earth Will Be There«, wiederum mit der so passenden tiefen Kontrastimme von Moor Mother, auf dem die rettenden Hände der Elterngeneration beschworen werden. Doch was wird sein, wenn Mutter, Großmutter, Großvater einen nicht mehr auffangen können? Die Erde wird auffangen und sich weiterdrehen.
Industrial School of Alabama for Negro Children
Gleich darauf jagen kalte Schauer über den Rücken, wenn die Band die Hölle von »Mount Meigs« mit eindringlich kratzbürstigem Spiel dramatisch widergibt.
Thinking that I was the most stupidest child that walked the earth
Nobody taught us anything, got no education
Nobody let us have no wisdom
They beat the curiosity out of me
They beat it out of me
They whooped it
They knocked it
They banged it, slammed it
Das erlebte Grauen, die traumatischen Erniedrigungen in der Industrial School of Alabama for Negro Children haben sich tief in ihn eingebrannt und noch an keinem Tag seines 73-jährigen Lebens losgelassen. Möge es Lonnie Holley dieser erschütternde Song ermöglichen. Auch der bedrohlich schwärende, im Worksong-Duktus gehaltene Song »Better Get That Crop in Soon« verdeutlicht die Ohnmacht, der die Ausgebeuteten und deren Kinder auf den Baumwollfeldern ausgesetzt waren:
»Get on back to work
Get on back to work«
He said
And the old woman fell to her knees praying
And moaning and groaning
Screaming Massah snapped his whip
Snapped it one time
Two times
And the third time
That old leather whip
That old leather went across her back
Split, split her back wide open
Splitting her back wide open
And the blood ran off her back
She cried out
Oh, my Lord
Oh, my Lord
Mmm
Mmm
Slaves all over the field
Slaves all over the field
Just looking
Lonnie Holley hat sich auf großartige Weise selbst therapiert. Die Neo-Spirituals auf seinem aktuellen Album sind das Ergreifendste, was der Rezensent seit Henryk Mikolaj Górockis »Symphonie der Klagelieder« gehört hat. Und tatsächlich gibt es eine Querverbindung zur dritten Symphonie des polnischen Komponisten, die sogar in vordere britische Albumcharts gelangte. »Kindness Will Follow Your Tears« mit dem Gesang von Bon Iver kommt dem schon recht nahe und Jacknife Lees um Dulcitone und Pump Organ verstärkte Instrumental-Armada sowie Justin Vernons Gitarren- und Drumeinspielung samt Holleys Mellotron vermögen zu Tränen zu rühren … und dann noch dieses unglaublich tief empfundene Wimmern Holleys mit Trost spendenden Sätzen!
Angels was all around me drying my tears away
You can still hear my mother and my grandmother
Them saying, saying hush little baby, hush little baby
…
Greatness come in the morning
Kindness will follow your tears
Eine kleine Weile für die Ewigkeit
Darauf folgt das wahrlich in den Himmel strebende »None Of Us Will Have But A Little While«. Sharon van Etten hebt mit ihrer unvergleichlichen Stimme an, die Musik ist eine Himmelfahrt, schwebend, feierlich, selige Güte verbreitend. Im Fade-out dann noch ein Flötenanklang, der unweigerlich an den Sound von Van Morrisons Meisterwerk »Astral Weeks« anknüpft.
Throughout all our eras
We all’ve been struggling
To get somewhere
But humans I want to tell you
We all don’t have but a little while
But a little while
Holley raunzt, Sharon van Etten herself klingt wie ein Engelschor, eine Trompete bricht sich Bahn und aus den Tasteninstrumenten strömt ein wundersam tröstlicher Górecki-Effekt. Erhebende, erlösende, gleißende, lichtdurchflutete Klänge heilen die Wunden der Seele. Wunderwunderschöner geht’s nicht. Ein Song für die Ewigkeit. Der in der Track-Abfolge eigentlich zweitgereihte Titelsong kommt daran nicht ganz heran, obwohl dieser mit Michael Stipes Chorstimme ebenfalls tief beeindruckt. »Oh Me Oh My« ist eine spirituelle Meditation, eine Wehklage, in der die Tränen fließen dürfen.
As we grow we learn each other more and more and more
We learn how precious life is
And the oh me and the oh my turns into the oh us
Oh us
I thought about how grandmama used to be down on her knees
How mama used to not be able to get up off her knees
After giving birth to baby after baby after baby after baby
And now I understand why she said these words
Oh me oh me and oh my oh my
In a graceful manner
In a thankful way
Every day that we have
Oh me oh my
Lonnie Holley und Jacknife Lee erschaffen mit Rokia Koné sogar noch das tröstliche Sufi-Gebet »If We Get Lost They Will Find Us« und stellen am Ende dieses jetzt schon Albums des Jahres 2023 im mit verquer-futuristischen Melodien verzierten »Future Children« eine alptraumhafte Zukunft in den Raum, mit letztlich doch versöhnlichen Schlusszeilen.
Future children
Go to bed
Go to your room
Powering down