Ein Popsong ist erst dann fertig, wenn er gelebt wird. Was das heißt, macht die KiWi Musikbibliothek sichtbar. Drei neue Bände sind erschienen: »Madonna«, »Leonard Cohen« und »The Beatles«. Die Bücher erzählen nicht die üblichen Göttersagen aus dem Star-Olymp. Es geht nicht darum, was John, Paul, George und Ringo am 13. Oktober 1962 gemacht haben. Nein. Jeder einzelne Band erzählt die autobiografische Odyssee eines Fans. Lady Bitch Ray berichtet, wie Madonna ihren emanzipatorischen Lebensentwurf auf den Weg gebracht hat. Klaus Modick erzählt davon, wie die Songs von Leonard Cohen das Mysterium der Liebe zugänglich machen. Und Frank Goosen zeigt, wie die Beatles seinen Blick auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest geprägt haben.
Role Model Madonna
Im neuesten Band der KiWi Musikbibliothek haut Lady Bitch Ray den Leser*innen ihre Lebensgeschichte um die Ohren. Die anderen Mädchen »machten auf à la turka, ich machte auf Madonna, yallah, Baby, yallah, so fing das damals wallahi an, here we go!« Die Autorin ist eine einzigartige Gestalt im Popbusiness. Reyhan Şahin heißt sie als Linguistin. Lady Bitch Ray ist ihr Alter Ego als tabubrechende Brachialrapperin. Der Weg vom Einwanderermädchen zur Rapperin war hart. Aber die Begegnung mit Madonna bot der damals Elfjährigen Orientierung. Beim Einkaufsbummel stößt sie auf ein Madonna-T-Shirt. Das sei eine »lesbische Schlampe« sagen die Freundinnen. Das weckt ihr Interesse: »Ich will auch eine lesbische Schlampe sein!« Lady Bitch Ray identifiziert sich vor allem mit der Ikone Madonna, mit ihren Bildern, ihren Posen, ihrer Kleidung, ihrem Körpergefühl. Und mit ihrem Umgang mit Sex, »unabhängig von Kategorien wie Geschlecht, Race oder Klasse«. Die italienische Klosterschülerin Madonna wird zum maßgeblichen Empowerment-Vorbild der Tochter eines alevitischen Geistlichen. Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray zeigt in ihrem ganz eigenen Sprachstil, wie Popmusik zu einem Lebensstil mit emanzipativer Kraft werden kann.
Mythos Leonard Cohen
Klaus Modick dagegen liefert eine kunstvoll konstruierte Romanze. Sein Held Lukas hat als Jugendlicher beim nächtlichen Radiohören eine schicksalhafte Begegnung mit Leonard Cohens Song »Suzanne«. Obwohl er den Interpreten des Songs nicht kennt, begleitet ihn das Echo des Liedes durch sein Leben. Erst Jahre später, nach seiner ersten Liebesnacht, legt seine Bettgenossin genau diese Platte auf. Jetzt kennt er den Interpreten. Und ein bisschen die Liebe. Den Angelpunkt der Geschichte bildet ein Konzert Cohens in Hamburg. Cohen tanzt mit Fans auf der Bühne. Und Lukas ist dabei. Im zweiten Teil des Buches reist Lukas nach Griechenland, um sich ohne Cohen selbst zu finden. Aber er findet am Ende, natürlich, die Liebe. Dieser zweite Teil des Buches ist reine Fiktion. Aber sehr kunstvoll. Denn die ganze Geschichte besteht aus Anspielungen auf Cohen-Songs oder Cohens Biografie. Lukas begegnet sogar einem geheimnisvollen Mann – Cohen selbst. Diese Form der Liebeserklärung an einen Künstler hat es in der KiWi-Musikbibliothek so noch nicht gegeben, wird der Reihe aber trotzdem gerecht.
Wegbegleiter Beatles
Goosen ist der Komödiant der KiWi-Musikbibliothek. Er ist ein Meister der zugespitzten autobiografischen Pointe. Wie immer, wenn man ein Goosen-Buch liest (»Liegen lernen«, »Kein Wunder«), hat man das Gefühl, dass man mit einem alten Kumpel beim Bier in der Kneipe sitzt und sich über gemeinsame Erinnerungen beömmelt. In seinem Band über die Beatles spielt er diese Stärke voll aus. Wir sind dabei, wie er in den späten 1970ern zu den Beatles findet. Wir folgen seinen Gedankengängen, wenn er mit Beatles-Songs als Medium über all die Michaelas und Andreas nachdenkt. Wir begleiten ihn sogar auf eine Pilgerfahrt nach Liverpool.
Alle drei Autor*innen beherrschen die autofiktionale Anekdotenverdichtung. Am deutlichsten fiktionalisiert sich Klaus Modick, der die Geschichte seines Alter Ego Lukas (»Lukas« ist ein Anagramm von »Klaus«) als personaler Erzähler begleitet. Und obwohl Goosen und Lady Bitch Ray den Authentizitätsmarker »Ich« benutzen, ist klar, dass sie zugunsten der erzählerischen Pointen Selbstfiktionalisierung betreiben. Lady Bitch Ray wegen des im Rap üblichen Geprotzes. Goosen wegen der komödiantischen Pointe. Aber auch das ist Pop, das fließende Spiel zwischen Persona und Person. Da fällt mir vor allem der Beatles-Film »A Hard Day’s Night« als Vorbild ein.
Popkonsum als kreative Kraft
Pop ist ein Lebensstilangebot, das durch die Performance der Fans Gestalt annimmt. Die Bücher der KiWi Musikbibliothek archivieren diese Konsumgeschichte. Menschen, meint der Ethnologe Daniel Miller, seien Knotenpunkte in einem Netz aus Beziehungen. Dabei gehe es nicht nur um die Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch die zu Orten und Dingen. Menschen, Orte und Dinge werden zu Erinnerungsmomenten verdichtet. Und genau diese Momente sind es, die uns dann erzählen, wer wir sind. Der Konsum bestimmt unsere Beziehung zu Dingen. Pop ist Massenware, die konsumiert wird. Und oft entwickelt sich der Gebrauch eines Popsongs ganz anders, als die Künstler sich das gedacht haben. Popkonsum kann eine kreative Kraft und Produktivität entfalten, die das Verhältnis eines Menschen zu sich, zu anderen und der Welt maßgeblich prägt.
Das kommt in der KiWi Musikbibliothek schön zum Tragen. Goosen beschreibt ausführlich sein Kinderzimmer, seine Plattensammlung, seinen Plattenspieler, seine Freunde, den Plattenladen, den Preiskleber auf der Plattenhülle, der nicht abgeht, den Bolzplatz, die Schule, die Mädchen und ihre Zimmer. Aus diesem Strudel aus Menschen, Dingen und Orten kondensiert Goosen liebevolle Comedy-Momente. Etwa wie ihn seine Bob-Dylan-Platten in die Arme eines Mädchens führen. Modick berichtet detailliert über das magische Auge eines alten Radios. Eine Schlüsselszene seines Buches spielt in einem Plattenladen. Lady Bitch Ray erzählt feinsäuberlich und detailverliebt von ihrer Markenkleidung und was sie mit welcher Marke verbindet. Sie erklärt haarklein, wie sich ihr Style aus Madonna und Lil Kim zusammensetzt.
Als Bände der Reihe KiWi Musikbibliothek können die kleinen Bücher bestehen. Aber als Einzelwerke im Oeuvre prominenter Autoren nicht. Vor allem bei Goosen hat man das Gefühl, dass man seine Anekdoten irgendwie schon kennt. Aber besser. Und auch bei Lady Bitch Ray wird man das Gefühl nicht los, dass es sich bei großen Teilen ihres »Madonna«-Bandes um einen kleinen Bruder ihres Buches »Yalla, Feminismus!« handelt. Goosen und Lady Bitch Ray bescheren einem also das eine oder andere Déjà-vu. Modicks Erzählung ist zwar originell, kommt aber oft etwas zu getragen und bedeutungstief daher. Aber das hängt vielleicht mit dem Thema zusammen. Als Popkonsum- und Lebensgefühlsarchiv ist die Fokussierung auf »Prominente*r Autor*in berichtet über die Bedeutung eines Popstars in seinem*ihrem Leben« absolut gelungen und ein großes Lesevergnügen.