Es ist nicht einfach, über dieses Album zu schreiben.
Der Junge im Eis
An einen frostigen Nachmittag des Jahres 1866 verlässt David Barrie das Haus seiner Eltern, um Eislaufen zu gehen. Es ist der Tag vor seinem vierzehnten Geburtstag. Von diesem Ausflug wird er nie zurückkehren. Das Eis brach, der Junge ertrank oder erfror. Arbeiter finden am Abend die Leiche und bringen sie ins Haus der Familie zurück. Sein jüngerer Bruder James Matthew Barrie wird diesen Vorfall nie verwinden. Wie sollte er auch? Der Tod ist unerbittlich, nichts in der Seele des sechsjährigen James hat ihn auf diesen Schlag vorbereiten können. Die Trauer der Mutter steigert sich in einen Wahnsinn. Sie kann ihr Kind, ihren liebsten Sohn David, niemals gehen lassen und so verbleibt er als Geist im Haus der Familie. Das ist die Art der Toten, sie mögen leiblich unwiederbringlich verloren sein, aber sie sterben nie für die, die sie lieb hatten. Für sie, die Hinterbliebenen, verwandelt sich der tote David Barrie in einen »Ghosteen«. Einen Geist immerwährender Adoleszenz.
James Matthew Barrie beginnt die Kleider seines großen Bruders zu tragen und spielt Dialoge mit seiner Mutter, in denen diese meint, das tote Kind wiedergefunden zu haben. Wahrlich, der kleine Barrie lernt die Kunst auf die harte Tour. Später im erwachsenen Leben, als erfolgreicher Schriftsteller, wird er diese Erfahrungen in jene Texte gießen, die heute jedes Kind kennt: Peter Pan. Ja, ganz genau, dieser kleine, freche Teenie, der auf einer unerreichbaren Insel lebt, die »Neverland« heißt, und der niemals älter wird. Was haben wir denn gedacht, warum dies so sei? Peter Pan altert nicht mehr, weil er gestorben ist. Einzig in diesem Gedanken, dass ihr Sohn niemals altern würde, fand Barries Mutter Trost. Und Barrie selbst fand die Lebensaufgabe, der unerreichbaren Größe seines Bruders nachzueifern, der niemals etwas falsch machen konnte in einem Leben, das ihm jäh geraubt wurde. Einen solchen engelsgleichen Toten denkt man sich am besten von guten Geistern umgeben. Wohnort: Neverland. Entfernung: unendlich.
Well I left you sleeping like a ghost.
In your wounds.
Darling your dreams were your greatest part.
I carry them with me in my heart.
Der Junge auf dem Felsen
Im Jahr 2015 bestiegt Nick Caves Sohn Arthur mit Freunden einige Klippen in der Nähe von Brighton. Sie mögen Drogen genommen haben oder auch nicht, das geht das Publikum einen feuchten Kehricht an. Der Junge stürzt über die Felswand in seinen Tod. Dinge dieser Art passieren. Auszuhalten sind sie nicht. Für so etwas kann es weder Vorbereitung noch Aussöhnung geben. Wer einen solchen Schlag erfährt, kann eigentlich nur mehr in der Kunst Halt finden. Die unversöhnliche Härte und Grausamkeit eines solchen Schicksals muss durch Fantasie, Imagination und Rausch notdürftig aushaltbar gemacht werden. Dies zumindest kann teilweise gelingen. Nun ist Cave, anders als Barrie, nicht gerade der Typ für Kinderbücher. (Tatsächlich waren Barries erste Texte über Peter Pan nicht für Kinder gedacht.) Cave reagiert auf den Tod seines Sohnes mit unbändiger Wut. Kaum mehr könne er einen Supermarkt betreten, die Gefahr sei einfach zu groß, dass er alle in der Warteschlange erwürgen würde. Will man ihm dies verübeln? In seiner Kunst aber findet er Jahre später zu jener Sanftmut zurück, die das Album »Ghosteen« prägt.
In dem Doppelalbum scheint es nicht ein einziges Motiv zu geben, das nicht in beschwerlicher, zuweilen kaum erträglicher Weise Abschied, Trauer und Trennung thematisiert. Die erste Platte seien die Kinder, die zweite deren Eltern. Zwischen beiden klafft ein Hiatus. Die Pause zwischen den beiden Scheiben ist für Cave mehr als eine Unterbrechung. Was auf der ersten Platte gespielt wird, kann nie auf der zweiten sein. Die beiden werden nicht mehr eins. Auf der ersten Platte stehen wir noch gemeinsam mit dem Vater am Bahnhof und erwarten den 5 Uhr 30 Zug.
My baby is coming back now, on the next train.
I can hear the whistle blowing.
I can hear the mighty roar.
I can hear the horses prancing.
In the pastures of the Lord.
Oh the train is coming and I’m standing here to see.
And it’s bringing my baby right back to me.
Well there are some things that are hard to explain,
But my baby’s coming home now on the 5.30 train.
Pietà
Die Musik der Bad Seeds ist sehr reduziert. Das Klavier von Cave dominiert, zuweilen erweitert sich der unerhört gute Gesang, der im Alter noch einmal intensivierten Cave’schen Stimme zu Chorälen der Backgroundsänger*innen. Wenn der Autor dieser Zeilen über das neue Album von Nick Cave nicht den Verstand verloren haben sollte, dann darf konstatiert werden, dass die Aufnahmen nicht eine Sekunde lang kitschig ist. »Ghosteen« ist pathetisch, elegisch und von erdrückender Schwere, aber die Gesangsstimme von Cave und die minimalistische Musik der Bad Seeds trägt und erträgt dies. Und dann ist da die Sache mit der Religion. Mit der braucht man Nick Cave bekanntlich nicht kommen, denn er hält sie für betrügerische Manipulation. Aber in seiner Kunst hat ein gewisser Herr aus Nazareth seine regelmäßigen Auftritte. Das ist kein Widerspruch. Christus kann dem Menschen den Menschen vermitteln, betonte bereits Karl Marx (und es ist besser, der Nazarener macht es, als das Geld …). Im Leiden Christi wird das eigene Leid begreiflich und das ist ein Grundmotiv »schwerer« Kunst im westlichen Kulturkreis. Cave sah nie einen Grund, hiervon abzuschwören und den Leidensmann in den krummen Fingern der Pfaffen zu lassen. Auf »Ghosteen« betrachtet Cave also erneut den toten Christus in den Armen seiner Mutter … Kleine Zwischenfrage: Wie kaputt ist eigentlich ein Land, in dem Sebastian Kurz als Christusfigur agieren kann? »All this twisting of the truth«, den Leuten macht das anscheinend wenig aus. Cave hat dieses Spiel seit Langem über und auch auf der neuen Platte muss er konstatieren, von Tyrannen und Dummköpfen hat die Welt wirklich genug.
Aber was nützt es, dies zu konstatieren? Sicherlich, von seiner Wut kann man sich durchaus leiten lassen, gerade dann, wenn sie so berechtigt ist. Diese Gesellschaft zu verfluchen, sie anzuprangern und das sinnlose Leid zu verwünschen, das ist schon vollkommen richtig. Und allein dafür muss man Cave auch ein wenig lieben. Aber diese Kräfte erschöpfen sich irgendwann. Es muss um mehr gehen als den wütenden Kampf, der ohnehin nicht zu gewinnen ist. Gebt euch keinen Illusionen hin, sie werden alles zerschlagen, weil sie es nie erkannt und schätzen gelernt haben. Die Wut hierüber darf aber nicht die eigene Liebe auffressen. Nick Cave nennt den »Ghosteen« einen »Migrating Spirit«. Er wandelt zwischen den Welten. In der Dichotomie dieses Doppelalbums zwischen jener ersten Scheibe, die die Welt der Kinder repräsentiert, und jener zweiten, die die der Eltern ist. »Ghosteen« schafft den Übertritt und ist somit etwas von diesem »Umgreifenden«. Es weiß weder der Himmel noch die Erde, was das eigentlich ist. Das kann man halt nicht sagen und muss es auch nicht.
Cave singt wieder von jener Apokalypse schreiender Pferde, brennender Bäume und einem durch seine Trauer verrückt gewordenen Christus. So, wie er es seit Jahrzehnten tut. Die persönliche, familiäre Tragödie hat seine Themen und Motive wahrlich nicht verändert. »People ain’t no good«, das war ihm lange klar. Aber – und das ist der Clou dieses neuen Albums – Cave beschwört Chaos, Tod und Vernichtung im Rahmen einer glaubwürdigen Suche nach Frieden. Er will seinen Frieden machen, mit den Menschen und mit diesem Leben. Diese Sehnsucht ist überzeugend und schlichtweg überwältigend, denn in ihr liegt eine himmelhohe und erdenschwere Authentizität. Wenn Cave sagt »I love you«, dann schimmert darin noch einmal der eigentliche Sinn dieser Worte hindurch. Ein Sinn der meist unter all dem Dreck begraben liegt. »Ich liebe dich« heißt hier: »Es ist gut, wie es ist.« Wenn ein Teil dieser Welt geliebt werden kann, dann ist alles gerettet. Dann war nichts umsonst. Auch der Tod des geliebten Sohnes nicht. Und wenn das Leid allem angehört und sich in allem findet, dann ebenso die Liebe.
We are photons released from a dying star.
We are fireflies a child has trapped in a jar.
And everything is as distant as the stars.
I am here and you are where you are.