Zwischen Moskau und Murmansk, einer der nördlichsten Städte Russlands, liegen fast 2.000 Kilometer. So lange haben die Protagonist*innen Laura (Seidi Haarla), eine junge, finnische Archäologiestudentin, und Ljoha (Yuriy Borisov), ein russischer Bergarbeiter, Zeit, sich anzunähern und Bezüge herzustellen, wo keine sind. In knappen hundert Minuten erzählt der finnische Regisseur Juho Kuosmanen in »Abteil Nr. 6« (»Hytti nro 6«) die Geschichte einer Beziehung, die vom Zufall bestimmt ist und unsere eigenen Vorbehalte hinterfragt. Der Film, der dem gleichnamigen Roman von Rosa Liksom folgt, überspitzt dabei Klassenklischees auf einem Raum von unter 4 Quadratmetern und schafft es trotzdem, nicht in sozialkritischen Kitsch zu verfallen. Ganz im Gegenteil sind es gerade diese Auslassungen, die bewegen und zum Nachdenken anregen.
Innerer Abschied
Laura will die Petroglyphen in Murmansk sehen. Dabei handelt es sich um prähistorische Felsmalereien, die im nördlichsten Teil Russlands zu bestaunen sind. Träumend von der Bedeutungsfülle, die sie dort zu finden glaubt, steigt die junge, finnische Studentin in den Zug, wobei doch ihr Herz zu gewissen Teilen in Moskau verbleibt. Ihre Geliebte, die eigentlich mitkommen hätte sollen, lässt sie nämlich ebendort zurück. Man leidet richtig mit, wenn Laura nach dem vorerst unangenehmen Zusammentreffen mit ihrem Abteilgenossen bei erster Gelegenheit aus dem Zug steigt und schon drauf und dran ist, den Zug zurück nach Moskau zu buchen. Doch es ist hier, wo das langsame Loslassen beginnt. Ein Loslassen wie ein innerer Abschied von einem geglaubten Selbst, das man auf Reisen immer irgendwie gezwungenermaßen zu hinterfragen beginnt.
Zwischen den Zeilen
Schnell wird nämlich klar, dass die Geliebte vielleicht doch nicht ganz so »into it« ist wie Laura selbst, die sich einsam und verletzt in Abteil Nr. 6 wiederfindet, in dem sie nur die Leerstelle ihrer Geliebten sieht. Stattdessen sitzt dort Ljoha, ein grölender und betrunkener Russe, der keine Grenzen kennt und Laura bei erster Gelegenheit sexuell belästigt, die durch dieses Eindringen in ihr inneres Verlorensein und ihre körperliche Integrität doppelt bestürzt ist. Man will in den ersten zwanzig Minuten nicht wirklich glauben, dass das Narrativ hier noch eine sinnvolle Kurve kratzen kann. Und doch schafft es der Regisseur gekonnt und ungezwungen. Seltsam verwundert fragt man sich gegen Ende des Films, welche Nähe hier aufgebaut wurde, die, ohne dass man es gemerkt hat, einen unmöglich geglaubten Raum eröffnete. Es ist eine Beziehung, die im Subtext entsteht. Die beiden Protagonist*innen in ihrer jeweiligen Unbeholfenheit können sich gar nicht in den Zeilen lesen, die sie jeweils für sich in ihrem abgetrennten Kosmos geschrieben haben. Die Begegnung passiert zwischen den Zeilen.
Liebe ohne Trost
Es bleibt dennoch ein unmögliches und über dem Praktischen schwebendes Gefühl, das einen am Ende einholt. Schlussendlich schaffen es die beiden nach mehreren Tagen nach Murmansk. Ljoha begibt sich in das Bergwerk, in das er zum Arbeiten gefahren ist, und Laura findet sich, erinnert an ihr losgelassenes Ich, in einem Hotelzimmer wieder, das noch auf den Namen ihrer Moskauer Geliebten gebucht ist. Die Einsamkeit scheint plötzlich wieder unerträglich. Doch es ist die Erinnerung an Ljoha, die Laura nun antreibt, trotz allem nach den ursprünglich ersehnten Petroglyphen zu suchen. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Fundstelle aufgrund massiver Verschneiungen gar nicht zugänglich ist. Die Enttäuschung darüber bringt Laura mit letzter Motivation wieder zu Ljoha, der ihr durch seine Beziehungen hilft, auf die völlig zugefrorene und verschneite Halbinsel zu fahren. Ob sie die Petroglyphen finden, weiß man bis zum Schluss nicht. Aber eigentlich ging es nie wirklich darum. Inzwischen ist es nurmehr schweigendes Verstehen, das die Handlung antreibt. Zwischen Schneedünen und der wirklich sinnlich erfahrbar gemachten Kälte bleiben die zwei Unbeholfenen in den Träumen verkettet, die sie in ihrer Sprache geschrieben haben. Die Übersetzung bleibt jedem*jeder einzelnen Zuseher*in selbst überlassen. Juho Kuosmanen hat es geschafft, mit »Abteil Nr. 6« einen kitschlosen Streifen zu produzieren, der dennoch ein Pathos zulässt, das jede*r selbst dorthin setzen kann, wo er*sie es für richtig hält. Ein Film zum Träumen und zum Schweigen.
Österreichischer Kinostart ist der 1. April 2022.