Schulz verbrachte, so die gängige Meinung, sein Leben fast ausschließlich in seinem Heimatort (mit kurzen Aufenthalten in Warschau und Paris) und kreierte dort in Erzählungen wie »Die Zimtläden« oder »Das Sanatorium zur Todesanzeige« sein individuelles literarisches Universum des Absurden, Surrealen und Erotischen. Als Hitlers Truppen in die Sowjetunion einfielen, wurde Schulz im Ghetto von Drohobytsch interniert. Seine künstlerische Begabung trug ihm das Wohlwollen eines Gestapochefs ein, der jedoch nicht verhindern konnte, dass Schulz 1942 auf offener Straße von einem Soldaten der Besatzungsmacht erschossen wurde.
Leben und Werk von Bruno Schulz sind Gegenstand internationaler Forschung, die speziell in Italien sehr intensiv betrieben wird. Eines der interessantesten Zeugnisse davon erschien dieses Jahr im Görzer Verlag Kinoatelje: »La repubblica dei sogni« von Paolo Caneppele. Der Autor ist Filmhistoriker, arbeitete in Wien beim Filmarchiv Austria, der Cineteca di Bologna und unterrichtet an der Universität in Udine. Er ist Herausgeber zahlreicher Bücher zur Früh-, Regional- und Zensurgeschichte des Kinos. Caneppeles Beitrag zur Schulz-Forschung zeichnet sich durch drei wesentliche Punkte aus: Zunächst belegt der italienische Autor, dass Schulz, der stets als polnischer Autodidakt dargestellt wurde, etwa dreieinhalb Jahre (1914-1917 sowie 1923) in Wien gemeldet war. Meldezettel des Wiener Stadt- und Landesarchivs werden als Beleg abgedruckt. Ein anderes Dokument besagt, dass sich Schulz am 16. November 1916 an der Technischen Universität Wien immatrikulierte. Das muss nicht bedeuten, dass er den ganzen Zeitraum über vor Ort war, sicher ist dadurch aber auch, dass für diesen Zeitraum auch in der österreichischen Hauptstadt Inspirationen für sein Werk zu suchen und zu finden sind. Der Autor führt zahlreiche Illustrationen aus zeitgenössischen österreichischen Tages- und Fachzeitschriften an, die solche Beobachtungen untermauern. Als weiteren Punkt zeigt Caneppele durch gezielte Nachforschungen im Wiener Simon Wiesenthal Center auf, dass vermutlich nicht der in der Forschung ausgewiesene Karl Günther Schulz ermordet hat, sondern aufgrund von Zeugenaussagen weitere Personen dafür in Frage kommen.
Als wichtigster Beitrag von »La repubblica dei sogni« darf betrachtet werden, dass Caneppele die Lesbarkeit der Schulzschen Prosa um den Zusatz der visuellen Medien erweitert, wie bereits der Untertitel verrät: »cinema e arti figurativi«. Während sich in den Texten Hinweise auf Malerei und Literatur leicht ausmachen lassen und die Forschung Schulz in Bezug auf so unterschiedliche Gebiete wie Kabbala, Bibel und Kafka (den er ins Polnische übersetzte) rezipiert, weist Caneppele nach, dass auch Kino, Ausstellungs-Panoramen, Werbung, Postkarten und Gebrauchsmalerei das Werk von Schulz nachhaltig beeinflusst haben. Sie nähren ebenso wie die tradierten Bereiche die beeindruckende Bildsprache des Autors, was Caneppele anhand von zeitgenössischen Abbildungen anschaulich belegt. Wenn Schulz etwa erwähnt, dass er zu seiner Erzählung »Der Komet« durch »alte Stiche« inspiriert worden sei, dann drängen sich neben astronomischen Zeichnungen auch Postkarten und Zeitungsberichte aus den Jahren 1899 (die Leoniden) und 1910 (Halleyscher Komet) auf; Zeugnisse, die auch Elias Canetti und Karl Kraus (»Und wenn die Erde erst ahnte, wie sich der Komet mit der Berührung vor ihr fürchtet!«) beeinflussten. Da die Verbindung aller Kunstbereiche sich hierzulande immer noch auf die »etablierten« Disziplinen erstreckt und zu vieles dabei ausgeschlossen bleibt, ist ein Buch wie das von Caneppele auch als interdisziplinäres Musterbeispiel zu begrüßen. »La repubblica dei sogni« liegt bisher nur in italienischer Sprache vor, es wäre wünschenswert, dass möglichst bald eine deutsche Übersetzung diesen faszinierenden Diskurs einer breiteren Leserschaft erschließt.
Paolo Caneppele: La repubblica dei sogni. Bruno Schulz, cinema e arti figurativi
Görz: Kinoatelje 2004, 128 Seiten, EUR 12,-