Karl Amadeus Hartmann (geboren am 2. August 1905 in München) räumte jedoch selbst ein, da habe wohl ein bohemehaftes Gefühl, eine künstlerische Provokation des »dabei gewesen zu sein«, eine wesentliche Rolle gespielt. Dass dies aber nichts mit unverbindlicher Linksintellektuellen-Koketterie zu tun hatte, stellte sich alsbald nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten heraus. Hartmann gehörte zu den wenigen im Land gebliebenen, die sich standhaft der braunen Ideologie verweigerten. Der Komponist kam gar der Einstufung als »entarteter Künstler« zuvor, indem er ab 1933 die Aufführung seiner Werke im deutschen Reich untersagte und sich zugleich aus der Öffentlichkeit zurückzog. »Im Verborgenen« arbeitete er an seinen Werken weiter, worauf später eine weitere Apostrophierung auf ihn entstand: der Komponist der »inneren Emigration«.
Durch die Heirat mit der wohlhabenden Elisabeth Reussmann finanziell abgesichert, hätte das Ehepaar mit Sohn Richard ein unbeachtetes Dasein führen können, wäre da nicht der ebenfalls linkspolitisch engagierte Dirigent Hermann Scherchen gewesen. Eine Zeitlang war Hartmann sein Privatschüler, was den künstlerischen Werdegang bestimmt mitbeeinflusste. Während jener ungewissen, zwölf Jahre andauernden Durststrecke sorgte Scherchen als umsichtiger Mentor für Auslandaufführungen, schuf dabei auch Kontakte zum Winterthurer Musikfreund und Mäzen Werner Reinhart.
Erst nach Kriegsende bot sich dann für Hartmann die Gelegenheit, zur Aufführung der zuvor verbotenen und zurückgezogenen, teilweise umgearbeiteten und neugruppierten Werke in Deutschland. Endlich folgten zahlreiche Kompositionsaufträge seitens der verschiedenen Rundfunkanstalten, was ihm deshalb gelegen kam, verzichtete Hartmann doch auf jegliche Lehrtätigkeitsangebote. Im Zusammenhang mit dem Bayrischen Rundfunk kam es 1945 zur Gründung der Münchner Konzertreihe »Musica viva«, einer Plattform zur Förderung des zeitgenössischen Musikschaffens. Für deren Programmgestaltung zeigte sich Karl Amadeus Hartmann bis zu seinem Tode am 5. Dezember 1963 (er starb 58-jährig an Krebs) verantwortlich.
Bedrohliche Steigerungszüge, der unverkennbare Klageton, die zupackende Vitalität – insbesonders Hartmanns synfonische Werke bieten der Musikanalyse reichhaltigen Stoff. Den unterschiedlichen Beleuchtungen der »inneren Emigration« geht indes ein schön gestalteter, mit etlichen Schwarz-weiss-Fotos und Notenbeispielen versehener Band nach. Herausgeber ist der renommierte, deutsche Musikwissenschaftler Ulrich Dibelius. Er befasst sich mit dem Leben und Werk eines »Komponisten im Widerstreit«, was dieser gelungenen Werkbiographie gleich den Titel gab. Zwölf weitere Autoren kommen zu Wort, interessant dabei: Auch Selbstzeugnisse des Komponisten finden sich darin. So erfährt der Leser unter anderem, dass trotz eruptiver Tonsprache im Wechsel mit kontemplativen Tönen, Hartmann sich nie als »Ausdruckskünstler« verstand; dies hatte für ihn einen falschen Beigeschmack. Bemerkenswert wie Gattin Elisabeth Hartmann sehr lebhaft und gänzlich unsentimental Ereignisse und Eindrücke festhält. Der Leser gewinnt humorvoll gespickte Einblicke in die privaten Kompositionsstunden bei einem etwas pedantischen Anton Webern (der im übrigen politisch nicht immer nur zweifelsfrei war). Ähnlich wie Edgard Varèse konnte sich auch Hartmann nie für die einengende Strenge der Zwölftonmusik erwärmen. Natürlich fehlen rein musikanalytische Beiträge und Betrachtungen nicht. Die aber werden auf angenehm verständliche Weise vermittelt, was auch beim Nichtkenner die Neugier zu dieser sehr individuellen Tonsprache weckt. Einzig auffallend ist, dass der sonst schreibgewandte Komponist Hans Werner Henze zu diesem Buch keinen Beitrag leistete, war er doch nicht nur ein wichtiger Wegbegleiter, sondern verhalf fast 60 Jahre nach der Entstehung der reizvollen Hartmann-Kurzopern »Wachsfigurenkabinett« zur Aufführung (in der von Henze konzipierten ersten Münchner Biennale für neues Musiktheater 1988).
Ulrich Dibelius (Herausgeber)
»Karl Amadeus Hartmann – Komponist im Widerstreit«
Bärenreiter Verlag Kassel, 352 Seiten, mit Notenbeispielen und Schwarz-weiss-Abbildungen