»Entschuldigen Sie, Herr Inspektor, ich will eine Anzeige machen. Also das war so, ich sitz da in meinem Büro und will mir nebenbei diese CD anhören. Und wie ich das dann so halb und halb höre, denke ich mir, schon schön irgendwie, aber auch deprimierend auf heimtückische Weise. Und dann kam diese Abrechnung rein, ich plötzlich völlig vertieft und auf einmal, ich weiß nicht wieso, steh ich am Fenstersims und will runterspringen. Also wirklich, Herr Inspektor, das geht doch nicht! So eine Musik, so was gehört doch verboten! Das ist doch, das ist doch ?? radikal ist das!« Könnte ich mir gut vorstellen, so einen Anruf, wenn man den »Night Studies« länger ausgesetzt ist. Dabei ist die Erschaffung melodramatischer, morbider oder sehnsuchtstrunkener Pianominiaturen wohl kaum das Ziel des Pianisten Marino Formenti gewesen. Ausgangspunkt waren vielmehr Stücke von Charles Ives, die Formenti auf höchst subjektive Weise dekonstruierte und neu zusammensetzte. Das harmonische Resultat ist düsterster Ives (vgl. etwa »The Unanswered Questions«), allerdings ohne dessen typische, expressiv-anarchische Ironie. Hinzu kommt aber ein besonderer Kniff (das Formenti-Moment, sozusagen). Denn durch alle Stücke zieht sich ein Muster des Fragmentarischen, des Hingeworfenen, des bloß Skizzierten, das noch dazu oftmals einfach abrupt (und dennoch sanft) beendet wird. Ein hingewehter Akkord, wie der zögerliche Beginn einer Sonate. Die dann auf zwei, drei Takten weitertrippelt und doch wieder verendet. Nochmals bläst ein Akkord durchs Gebälk. Eine weitere kurze Melodie wie ein Seufzen. Und wieder gravitätisch nachhallende Stille. Und so weiter. Eine derart ungeschwätzige Effizienz, ein derart fieses Stück eleganter Melancholie war schon lange nicht mehr zu hören. Mehr als nur Musik – ein mentaler Zustand. Ein Meisterwerk, definitiv. Sollte aber nur mit Warnhinweis für Suizidgefährdete vertrieben werden.
Marino Formenti
»Night Studies«
Col Legno
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