Larger than life. Ûberlebensgroß. Das Vermächtnis der Sun City Girls kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum überschätzt werden. Jahrzehnte bevor Hipstergemeinden sich sozial vernetzten, um die digitalen Winkel der Welt nach obskuren Sounds abzugrasen, waren die Sun City Girls schon da. Und das nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte bzw. linken Maustaste. Aus Indien, Bali, Marokko oder dem vorderen Orient zurückgekehrt spielten die Brüder Bishop zuhause in Seattle und zusammen mit ihrem Schlagzeuger Charles Gocher bis zu dessen Tod 2007 eine Musik, die ihrer Zeit immer voraus war und es noch immer ist. Ein unerschrockener, verschrobener Mix aus buchstäblich allem: call it Psychedelic-Free-Rock-Freak-Out-Spasm-Jazz garniert mit allerlei verbalen Anstößigkeiten. Einsam zogen sie im US-amerikanischen Untergrund jahrzehntelang ihre Kreise, und von ihrer Existenz erlangte diesseits des Atlantiks nur Kenntnis, wer sich beim Lesen von Import-Mailorderlisten die Augen verdarb. Erst kurz vor Charles Gochers Tod debütierte das Trio im Dezember 2006 in Europa. Thurston Moore hatte die Band zum von ihm kuratierten ATP-Festival nach London eingeladen. Ein weiteres Konzert fand in Berlin statt, kurz darauf verbreitete sich die Nachricht vom für Außenstehende überraschenden Tod des Schlagzeugers. Krebs.
A Celebration Of Life
Alan und Richard Bishop gaben aber weder das Rauchen noch das Musik machen auf und spielen seit dem (in unregelmäßigen Abständen und neben ihren Aktivitäten als Solokünstler) zu Ehren ihres langjährigen Wegbegleiters Konzerte, die mit Kompositionen aus dem Backkatalog der Sun City Girls bestritten werden. Akustische Sets, geradliniger als die mitunter chaotischen Live-Jams im Trio aber ebenso doppelbödig und von absurdem Humor geprägt. Eine dieser Shows fand 2011 in Krefeld statt und liegt nun als Doppel-Live-Album dokumentiert vor.
Alan Bishop: »Die Intention ist und war dieselbe und die Auswahl der Songs fiel fast identisch aus, wie auf der US-Tour 2008 kurz nach Charlies Tod. Es geht darum, sein Leben und seine Unsterblichkeit zu feiern und nicht darum, seinen Tod zu betrauern.«
Entsprechend bunt und munter geht es zu. Von der Anstiftung zum Kindsmord im Falle erzieherischer Ûberforderung (»Six Kids Of Mine«) über surreale Orgien mit (einer falschen) Marilyn Monroe (»The Brothers Unconnected«), bis hin zu Reisen ins Rotlichtviertel von Bangkok (»Soi Cowboy«) – inkl. halbseidener Bemerkungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Genie und Wahnsinn, Schwach- und Eigensinn liegen bis zur Ununterscheidbarkeit beieinander, wenn die beiden professionellen Provokateure auf der Bühne loslegen.
Alan Bishop: »Der konfrontative Humor war immer integraler Bestandteil der Sun City Girls [die zur Zeit des ersten Irakkrieges gerne mit Saddam Hussein Masken auftraten; Anm. H.A.]. It’s simply who we are – auf und hinter der Bühne.« Die Unberechenbarkeit ist die einzige Konstante. »Während einer Show kann jederzeit alles passieren«, so Alan weiter, »und es ist uns schon klar, dass gegebenenfalls bestehende Sprachbarrieren dafür sorgen, dass der Humor auf der Strecke bleibt oder Missverständnisse entstehen. Na und? Viele der Dinge, die wir auf der Bühne sagen, korrespondieren mit einer bestimmten Person im Publikum oder beziehen sich auf einen für Außenstehende nicht nachvollziehbaren Zusammenhang. Es ist nicht unser Ziel, Erklärungen abzugeben oder auf der Bühne dafür zu sorgen, dass jeder versteht, was gerade passiert oder warum. Wichtiger ist es uns, und das verstehen die Leute zumeist sofort, eine bestimmte Haltung zu verkörpern. Darüber hinaus können und wollen wir uns keine Gedanken machen. Wir sind, wer wir sind.«
Aristocrats Of Impertinence
Diese kompromisslose, unerschrockene und selbstbewusste Haltung ist sicher ein Grund dafür, warum die Sun City Girls und Alan und Richard Bishop als geistige Väter all der neueren Weird-Folk-, Freak- und sonstiger Szenen gelten: Animal Collective pilgerten nach Seattle, um sich von Scott Colburn, dem Hausproduzenten der Sun City Girls, produzieren zu lassen. Die Master Musicians Of Bukkake widmeten den drei Musikern je eine LP ihrer Totem-Trilogie, der über die Jahre hinweg mehr und mehr verwilderte Bonnie »Prince« Billy präsentierte 2007 seinem deutschen Publikum Sir Richard Bishop im Vorprogramm, und die wegen zart-bitterer Balladen gekommenen Zuschauer wussten mit dem »Django Reinhardt auf Opium« nicht viel anzufangen.
Mit den Jahren hat sich das allerdings verändert. Hypes, wie der um das 2003 ausgerufene New Weird America, und die seit einer Dekade fortschreitende Digitalisierung und Verfügbarkeit von kulturellem Nischenwissen (via Peer-To-Peer-Filesharing oder Blogs) haben dazu beigetragen, dass der kuriose Kosmos der Sun City Girls weniger fremd, weniger befremdlich wirkt.
Als Alan Bishops Label Sublime Frequencies 2003 »Folk and Pop Sounds of Sumatra Vol.1« veröffentlichte, galt es in poplinken Kreisen noch eher als verdächtig, sich dem zu nähern, was als »Weltmusik« wahlweise falsch oder richtig (weil den kolonialistischen Blick auf vermeintlich periphere musikalische Strömungen offenbarend) etikettiert wurde. (Man überließ das Peter Gabriel und fand, was dabei herauskam, zu Recht doof). Heute veröffentlichen unzählige Labels wie Honest Jon’s aus London hybride Musik aus allen Ecken der Welt, die weder als authentisch folkloristisch wahrgenommen werden kann, noch gänzlich außerhalb regionaler Traditionen besteht.
Alan Bishop hat im Interview keine Lust, seine Existenz als Musiker im Zusammenhang mit seinen Tätigkeiten als Labelbetreiber zu diskutieren. Das sind für ihn zwei Paar Schuhe – aber sie passen gut zusammen, denn die Musik der Brüder Bishop ist ohne ein erweitertes ästhetisches Sensorium kaum begreifbar. Aber es ist Alan Bishops Sache nicht, sich allzu deutlich über die Bedeutung von Musik aus aller Welt für seine eigene zu unterhalten oder darüber zu philosophieren, in welcher Weise technisch veränderte Bedingungen die Verbreitung von Musik (und auch seiner eigenen) verändert haben: »Too academic.«
Der bisweilen dezidiert antiakademische Gestus der Bishop-Brüder ist natürlich ebenso kalkuliert wie reflektiert, denn das Aufspüren und Verlegen von Musik jenseits des zentraleuropäisch-angloamerikanischen Mainstreams ist auch eine Aussage zu global-kulturellen Homogenisierungstendenzen – wenn auch (Vorsicht Dialektik!) das Wildern im vermeintlich popkulturellen Off selbst bereits wieder dazu tendiert, einen neuen (und zweifelhaften) Diversitäts-Konsens hervorzubringen. Alan Bishop weiß um solche Dynamiken und gibt doch im Interview zu Protokoll, dass seine künstlerische Arbeit kaum davon bedroht sei, Applaus von der falschen Seite zu erhalten, nicht zuletzt der bisweilen sehr eigene und konfrontative Humor helfe gegenüber Vereinnahmungstendenzen: »Selbst wenn es so aussehen mag, dass wir in den letzten Jahren stärker in einen kulturellen Mainstream hineingezogen wurden und mehr Aufmerksamkeit wecken – wir haben von Beginn an dafür gesorgt, uns durch eine gewisse Haltung zu schützen. Es ist nicht so einfach, mit uns zu Rande zu kommen, uns zu verstehen, und das provozierte Unverständnis mindert das Interesse.«
Zwei glorreiche Halunken
Alan und Richard Bishop benutzen Narren- als Tarnkappen, um nicht allzu sehr (oder kalkuliert verkehrt) gesehen zu werden, und auf diese Weise behaupten sie seit Jahrzehnten einen nicht kleinen Freiheitsspielraum, der es ihnen erlaubt, sich weitgehend ungehindert zu entfalten. In der Geschichte des Trios gibt es eine Menge zu entdecken, die Diskographie der Sun City Girls ist lang (und leider weitgehend vergriffen), und die Soloalben von Alan und Richard Bishop umspannen eine breite Palette von musikalischen Ausdrucksformen. Als Uncle Jim verkleidet randaliert Alan Bishop lautstark (nachzuhören auf »Superstars Of Greenwich Meantime«) und spuckt unter dem Alias Alvarius B nicht weniger laute Töne. Er hat eine große Klappe und macht – durchaus selbstreflexiv – reichlich Gebrauch davon (vgl. »Humor Police« auf dem 2011 erschienen Album »Baroque Primitiva«). Ein Singer-Songwriter, dessen Shows eher einem haarsträubenden musikalischen Kabarett gleichen und nichts mit den gefühlvollen Sentimentalitäten gemein haben, die dem Genre der weißen Männer mit Akustik-Gitarre sonst so häufig zu Eigen sind. Auf der Seite des Publikums stellt sich durchaus Unbehagen ein, wenn Alan von der Bühne herunter loslegt, er selbst ist jedoch weitgehend angstfrei bei der Sache: »Ich bin manchmal am Anfang etwas nervös, vor allem, wenn die Pause zwischen zwei Shows etwas länger war, aber das versuche ich dann zu verbergen. In aller Regel bin ich auf der Bühne aber furchtlos, entspannt und zufrieden mit meiner Situation.« – Und nichts ist ihm on stage lieber als Gegenrede aus dem Publikum, um den Live-Shows mehr Pfeffer zu geben.
Richard Bishop, ergänzt um ein »Sir« vor seinem Namen, veröffentlicht solo nicht nur aber zumeist Gitarrenmusik, die sich unterschiedlichster Stile und Genres bedient. Einflüsse von Django Reinhardt über Omar Khorshid und American-Primitive-Gitarristen wie Robbie Basho verbindet er zu seinem eklektizistischen unverwechselbaren Stil. Daneben hat er elektronische Musik veröffentlicht (»Graviton Polarity Generator«, 2011) und jüngst im Duo mit dem amerikanischen Künstler W. David Oliphant ein durch indische Mystik inspiriertes Album experimenteller Klang-Collagen (»Beyond All Defects«, 2012).
Die Brüder eint ein alchemistisch-unverfrorener Umgang mit allem, was ihnen zur musikalischen Bearbeitung und Aneignung passend erscheint. Das nun erschienene Doppel-Live-Album »Unrock The House« eignet sich hervorragend zum Einstieg in die unheimliche und aufregende Welt der Sun City Girls und der Soloaktivitäten von Alan und Richard Bishop.
Auswahldiskographie
Brothers Unconnected »Unrock The House« (2LP, Unrock 2012)
Sir Richard Bishop »The Unrock Tapes« (LP, Unrock 2012)
Sir Richard Bishop »Intermezzo« (LP, Ideologic Organ 2012)
Alvarius B »Alvarius B.« (2LP, Abduction 1997/2012, Reissue)
Alvarius B »Baroque Primitiva« (LP, Poon Village, CD Abduction 2011)
Sun City Girls »Funeral Mariachi« (LP, Abduction 2011)
Sun City Girls »Dante’s Disneyland Inferno« (3LP, Get Back 2010, Reissue)
Sun City Girls »330.003 Crossdressers From Beyond The Rig Veda« (3LP, Get Back 2010, Reissue)