Wer dieser Tage einen Blick in die Texte von Stuart Hall zu europäischer Flüchtlingspolitik, Rassismus und Black Diaspora wirft, hält einen gleichermaßen bestechenden wie beschämenden Beweis dafür in Händen, dass seine Arbeiten aktueller denn je sind. Denn angesichts der in den vergangenen Wochen und Monaten sich immer drastischer zuspitzenden Flüchtlingsnot wirken Halls Analysen geradezu wie ein Paukenschlag. Und dabei sind seine Texte doch eher von gedämpftem Ton, stets vorsichtig, fein, sehr präzise und bescheiden argumentierend. Zweifellos Streitschriften, emphatisch, nie ohne politisches Engagement. Allerdings immer auch in ganz unromantischem Sinne melancholisch, unversöhnt und stets dessen gewahr, dass die Dinge auch anders kommen können, nicht unbedingt auf Höhepunkte zulaufen. Fast so wie der elektrische Jazz eines Miles Davis, den Hall zeitlebens verehrt hat.
Hall, der 1950 im Alter von 18 Jahren seinen Geburtstort Kingston (Jamaika) verließ und nach England migrierte, wo ihn immer »eine Art distanzierter Vertrautheit« begleitete, wie Freund und Kollege Bill Schwarz es nannte. Hall, dessen Untersuchungen zu Othering, Hegemonie, Karl Marx, Pop(ulär)kultur, Thatcherism und massenmedialer Repräsentation nicht selten in Autor_innenkollektiven und -kooperativen entwickelt wurden.
Foto/Still aus »The Stuart Hall Project« / John Akomfrah (2013)
Mit Hall über Hall hinaus
Vor kurzem ist die von Film- und Gender-Studies-Wissenschaftlerin Dagmar Brunow herausgegebene Essaysammlung »Stuart Hall. Aktivismus, Pop und Politik« in der Reihe »Zwergobst« erschienen. Es ist der zweite Band dieser vom Mainzer Ventil Verlag 2015 lancierten Serie.* KulturtheoretikerInnen und AktivistInnen aus dem deutschsprachigen Raum gehen darin zentralen Konzepten des Hall’schen Denkens nach, um sich diese für ihre jeweilige Forschung und politische Praxis anzueignen. Mit Hall und über Hall hinaus werden hier queerfeministische Theoriebildungen elaboriert, wird im Rückblick auf die politischen Auseinandersetzungen der Hamburger Hafenstraße sowie der Lower East Side in New York Gentrifizierungskritik geübt, wird Film-, Rassismus- und Stilanalyse betrieben und das reiche Repertoire des Universitätslehrers und Aktivisten Stuart Hall geehrt, ohne ihn dabei zu verklären.
Entstanden ist eine eindrückliche kollektive Weiterführung der »unfinished conversation«, wie Hall seine Arbeitsweise selbst einmal bezeichnet hat und auf die sich die gleichnamige Film-Installation von John Akomfrah, Mitbegründer des Black Audio Film Collective, bezieht. Dass dieses Gespräch in die nächste Runde geht, zeigt sich nicht erst, aber erst recht im Hinblick auf ein »Europa der Zäune« (Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL), brennende Asylheime, Dublin III, die so genannte »Lagerpflicht« (!) für Flüchtlinge in Deutschland (!) und nicht zuletzt die Frage nach der (un)ange- messenen Unterbringung für Asylsuchende als Teilfrage des umfassenden Problems von bezahlbarem Wohnraum für alle.
Brunows Sammelband ist eine beherzte Einladung zu diesem Gespräch. »Aber es schmerzt«, wie Moritz Ege in seinem Beitrag konstatiert, »dass man nicht nachsehen kann, was Stuart Hall dazu aktuell wieder geschrieben hätte.«
Stuart Hall © Eamonn McCabe
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* Der erste »Zwergobst«-Band stammt von skug-Autor Frank Apunkt Schneider, »Deutschpop halt’s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung« [Anm. d. Red.]
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Dagmar Brunow (Hg.): »Stuart Hall. Aktivismus, Pop und Politik«
Mainz: Ventil Verlag 2015, 96 Seiten, EUR 10,-
John Akomfrah: »The Unfinished Conversation«
England 2013, 103 Minuten