Vandalismus an Plakaten zur Befreiung der Geiseln vom 7. Oktober 2023, Paris, März 2024 © Marganith, Wikimedia Commons CC0
Vandalismus an Plakaten zur Befreiung der Geiseln vom 7. Oktober 2023, Paris, März 2024 © Marganith, Wikimedia Commons CC0

Empathie als Einbahnstraße

Die kanadische Band Godspeed You! Black Emperor veröffentlicht ein neues Album mit dem Titel »No title as of 13 February 2024 28,340 dead« und thematisiert damit die Schrecken von Gaza. Einen entscheidenden Teil des Konflikts lassen sie dabei aus. Eine historisch-politische Einordnung.

Der Diskurs ist so verhärtet, dass ein Disclaimer nötig ist: Die Situation in Gaza ist entsetzlich, der Krieg muss beendet werden, zu viele Menschen sind gestorben und sterben noch immer, zu viele Geiseln verharren noch immer, nachdem sie von den Kämpfern der Hamas verschleppt wurden, in den Tunneln Gazas. Und in Israel kämpft man zugleich an mehreren Fronten: einerseits im permanenten Kampf um die Existenz des Heimatlandes gegen die vom Iran gesteuerte Hamas in Gaza und Hisbollah im Libanon und zugleich gegen die eigene Regierung unter Netanyahu, der man Unfähigkeit und bloßes Machtstreben unterstellt.

Das Mitgefühl mit den Menschen in Gaza unterscheidet sich wesentlich von den Empathiebekundungen in anderen Konflikten. So sehr, dass die Hamas-Mitglieder als Helden gefeiert werden. Auch das kommt vor: Die radikal-islamische Organisation, die es sich zum Ziel gemacht hat, Israel auszulöschen, wird als Teil der progressiven internationalen Linken betrachtet. Dabei war ihr Ziel niemals Frieden. Jeder Kämpfer, der im Krieg gegen die Juden fällt, stirbt als Märtyrer. Nach der herrschenden Ideologie hat er damit gewonnen. Für alle anderen Beteiligten in Gaza und Israel ist das nicht der Fall. Sie sind die Verlierer. 

Wie verirrt die sogenannte »Weltgemeinschaft« ist, zeigt sich auch an den Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden Krieg. Oft fehlt neben einem historisch-faktischen Grundwissen zum Konflikt einfach Empathie für alle Beteiligten. Statt alle Opfer zu betrauern und sich mit den Unterdrückten im ganzen Nahen Osten zu solidarisieren, gehen manche Protestierende so weit, sich in T-Shirts der Hisbollah vor die Tür zu trauen, als wäre es irgendwie okay.

Der 7. Oktober als Katalysator für Hass

2005 beendete Israel die Besatzung des Gazastreifens und riss die dortigen jüdischen Siedlungen ab. Kurz danach übernahm die Hamas die Kontrolle. Sie sah nach dem Abflauen der zweiten Intifada ihre Chance, den Terror auszuweiten – auch gegen die eigene Gesellschaft. Seitdem fliegen die von westlichen Aktivist*innen zynischerweise gerne als »Spielzeugraketen« bezeichneten Geschosse auf Israel – nur ein Beispiel der Entmündigung und Verniedlichung von palästinensischem Terrorismus. Zu viele Menschen leben seit langer Zeit im Schussfeld der Raketen: Seit 2001 sind es weit mehr als 25.000 Geschosse, die aus Gaza auf den jüdischen Staat gerichtet wurden. 

Ständiger Terror als politisches Mittel wurde zur Normalität. Die Hamas schickte ihre Raketen, die IDF reagierte alle paar Jahre mit einer Militäroperation, um den Beschuss einzudämmen. Dann kam der 7. Oktober 2023. Direkt nach dem Angriff begannen weltweiter Beifall, während die libanesische, ebenfalls vom Iran mitfinanzierte Hisbollah bereits ihre Angriffe auf Israel verstärkte. Der Hass gegen den jüdischen Staat begann sich bereits mit dem Massaker am 7. Oktober zu vertausendfachen, nicht erst mit der militärischen Offensive der israelischen Armee, die darauffolgte. 

Die Reaktionen der internationalen Musik- und Kunstszene waren grotesk. Viele feierten den Angriff, kaum jemand gedachte der Opfer des Massakers und ihrer Familien. Lange schon war die Meinung zu Nahost von Ignoranz und Einseitigkeit geprägt. Vor allem in der linksgerichteten Kulturwelt, die sich in vielen Bereichen als besonders aufgeklärt und sensibel gibt, will man den Charakter des Islamismus nicht sehen. Das begünstigt zum einen der postkolonialistische Diskurs, der seine am europäischen Kolonialismus erprobten Schablonen auf den Konflikt im Nahen Osten legt und so ein völlig verzerrtes Bild einer grundsätzlich anders gearteten Situation schafft. Jüdinnen und Juden werden dort als »weiße Kolonisierende« dargestellt, während Palästinenser*innen als »unterdrückte Schwarze« gelten – Täter gegen Opfer.

Das hat nichts mit der historischen Wirklichkeit von Jüdinnen und Juden zu tun. 20 % der israelischen Gesellschaft sind arabisch-jüdische Flüchtlinge aus islamischen Staaten, 160.000 Jüdinnen und Juden äthiopischer Abstammung leben in Israel. Einen weiteren Effekt erzielt die West-Ost-Wahrnehmung aus den Zusammenhängen des Kalten Krieges: Israel wird symbolisch mit den USA und dem Westen gleichgesetzt, der Westen als alleiniger Grund für bestehende Konflikte betrachtet. Dass die Palästinenser nicht nur mit Israel in Konflikt stehen, sondern auch von sämtlichen Anrainerstaaten im Stich gelassen werden und als Flüchtlinge in diesen Staaten unter unwürdigen Bedingungen leben, wird meist ignoriert. 

Musik ist keine universale Sprache

Die Band Godspeed You! Black Emperor nimmt ihre Sache ernst, und das ist gut. Aber man muss auch ihre Aussagen ernst nehmen. Mit dem Album »No title as of 13 February 2024 28,340 dead« thematisiert die Band die Schrecken von Gaza, ignoriert dabei jedoch die Zahl der Toten auf israelischer Seite. Je länger der Krieg dauert, desto höher werden die Opferzahlen auf beiden Seiten, desto ungreifbarer wird das Leid, desto mehr stumpft man ab ob all der Meldungen von Toten. Abgestumpft und desinteressiert war jedoch die (Musik-)Welt schon am 7. Oktober 2023. Denn irgendwie waren die Israelis ja selbst schuld an dem, was mit ihnen gemacht wurde. Was leben sie auch in diesem Land ihrer Ahnen, im Land, in das sie und ihre Vorfahren während und nach der Schoah flüchteten? In das sie nach der Staatsgründung massenweise aus den umliegenden Ländern flohen? Was leben sie auch neben Gaza, wo eine Terrororganisation herrscht? 

GY!BE kämpfen ihren Kampf einseitig. Ihr Habitus verkitscht »ihre Sache«. Sie instrumentalisieren eine Tragödie und stellen sie aus, tun so, als würde die Zahl eindeutig und für sich sprechen. Gemeinsam mit ihrem Label Constellation Records, das unnuanciert Israel dämonisiert und als einziges Land der Welt vom Versand seiner Produkte ausschließt, beteiligen sie sich am kulturellen Boykott des jüdischen Staates und lassen dabei bewusst die Menschen im Stich, die seit Jahren zerrissen sind zwischen dem Kampf gegen die rechtsextreme Regierung und dem Zustand der permanenten Bedrohung völliger Auslöschung. 

Es ist jedoch nichts Neues, dass sich GY!BE eindeutig politisch äußern, kämpferisch geben und auf der linken Seite der Welt verorten. Bereits in ihrem 2002er-Album »Yanqui U.X.O.« richten die Kanadier*innen den Fokus einseitig auf die USA und Israel. Das Cover-Bild zieren fallende Bomben im Krieg, der auf die Terroranschlägen der Al-Qaida im Jahr 2001 folgte, bei dem tausende unschuldige US-amerikanische Menschen ihr Leben verloren. Sie kritisieren in ihrem Kontext den »postkolonialen Imperialismus« der USA. Die Titel ihrer Alben und Songs suggerieren immer Tiefe und triefen vor Pathos. 

Der Track »09-15-00« verweist auf den 28. September 2000, an dem der damalige Oppositionspolitiker Ariel Sharon den Jerusalemer Tempelberg in Begleitung von massivem Polizeischutz besuchte. Dies nahmen die Palästinenser zum Anlass, die geplante Zweite Intifada zu beginnen. In den Liner-Notes der Band wurden aus dem Polizeischutz Sharons 2.000 Soldaten, die die Gewaltakte der Terroristen durch ihren Einmarsch erst provoziert hätten. Das entmündigt nicht nur die Akteur*innen, sondern verzerrt auch die historischen Fakten.

Überforderung und Machtlosigkeit

Die Aussagen sind weniger eine fundierte Kritik an den Verhältnissen als Ausdruck von Wut und Verzweiflung. Und einer von Überforderung gezeichneten Machtlosigkeit, die typisch ist für den Zustand der weltweiten Linken, die sich im Kampf gegen den Neoliberalismus wieder mal dieselben Opfer sucht wie schon vor vielen Jahren in Europa die Rechte im Kampf gegen den Kapitalismus. Täter ist die weltweite Unterdrückung, der »Kolonialismus« und der »Imperialismus« und ausführend ist exemplarisch immer nur die USA, die den Fehler beging, ihr Machtstreben immer auch mit einem moralischen Impetus zu versehen, während andere Global Player wie beispielsweise die UdSSR/Russland oder China nie einen Hehl daraus machten, was sie erreichen wollten. Damit ist die Fallhöhe weit geringer, und Israel steht vermutlich für viele symbolisch für diese falsche Moral, die dem kapitalistischen Westen von linker Seite vorgeworfen wird.

Mehr als 1.200 Menschen wurden am 7. Oktober ermordet, bei lebendigem Leibe verbrannt, vergewaltigt oder verschleppt. Männer, Frauen, Kinder, Greise, Juden sowie Nichtjuden waren darunter – und sie werden seitdem verschwiegen. Pathos kippt zum Kitsch, wenn der Wunsch, das eigene Leiden an der Situation auszudrücken, die Komplexität der Situation vernebelt. Die Musik des neuen GY!BE Albums könnte so wunderschön sein, wenn man sie als das betrachtet, was sie – ohne den einseitigen Bezug auf den Nahostkonflikt – sein könnte: Ausdruck von Verzweiflung, von Überforderung, Empathie mit allen Opfern des durch den Kapitalismus und Rassismus verursachten Leids auf der Welt, von den Opfern des Islamismus auf der ganzen Welt, von Vertriebenen und Verfolgten.

Und es gibt sie, diese Momente, die zu Tränen rühren, auf dem Album, dessen Titel kein Titel sein will, es aber doch ist, nämlich »No Title as of 13 February 2024 28,340 Dead«, der kontextlos einen erschütternden Fakt ausdrückt und doch im nicht zu leugnenden Kontext noch erschütternder das ganze Elend der Gesamtsituation zum Ausdruck bringt. Nämlich, dass die herrschenden Verhältnisse auch für Künstler wie GY!BE so unverständlich und unerträglich sind wie für die meisten anderen an ihnen verzweifelnden Menschen der Welt.

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