Die Wahlberlinerin und Autorin des Bestsellers »Alte weiße Männer: Ein Schlichtungsversuch« (KiWi, 2019) Sophie Passmann veröffentlichte jüngst erneut ein Buch. In »Komplett Gänsehaut« lässt sie eine Frau Ende Zwanzig über ihr Leben unter ihresgleichen, also über eine höchst kleinbürgerliche Welt sprechen. Das Ganze passiert in einer Form, die weder ganz Roman noch Biographie noch Memoire ist, sondern irgendwo dazwischensteht. Der Verlag selbst bezeichnet es großspurig als »literarischen Selbsthass«, was der Wahrheit wohl auch recht nahekommt. Auf 190 Seiten lässt Passmann bzw. die Erzählerin kaum ein Klischee aus, das sie mit Beschimpfungen oder Kritik niedermacht. Und kaum eines dieser Klischees verkörpert sie nicht irgendwie auch selbst. Es ist auf jeden Fall eines: eine ehrliche Abrechnung mit einer »Lost Generation«, der im Prinzip alle Möglichkeiten offenstehen, die aber mit sich selbst überfordert ist. Allem voran mit der Aufgabe, nicht so zu werden wie diejenigen, die ihnen das ermöglicht haben. Zugleich jedoch ist es ein höchst moralischer Text. Zwischen die vielen griffigen Alltagsbeobachtungen, die – wie bei einem Horoskop – doch irgendwie so allgemein sind, dass sich jede*r darin wiedererkennt, schleichen sich auch immer wieder Wertungen ein, die eine spießige Weltsicht offenbaren, und man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wieviel davon wahr ist. Ist das wirklich nur Fiktion oder spricht da die Autorin selbst?
Work hard, complain less
Sophie Passmann veröffentlichte »Komplett Gänsehaut« am 4. März 2021 bei Kiepenheuer & Witsch (KiWi) – genau wie Christian Kracht »Eurotrash«, den lang ersehnten Nachfolger von »Faserland«. Passmanns Roman beginnt mit einem lapidaren »Also«, das auch Kracht dazu nutzt, die Leser*innen direkt in die Gedankenwelt der Erzählperson zu führen. Ganz so, als würde diese einfach loserzählen – ohne groß nachzudenken, direkt aus dem Leben. Das ist jetzt nichts Neues und auch nicht mehr spannend, doch ermöglicht das lakonische Sprechen einerseits der Autorin, das Gesagte noch mehr als einen nur so dahergesagten Schwank zu verstehen, nicht ganz todernst gemeint vielleicht. Andererseits lässt dieses unkonkrete Dahinerzählen viel Raum für die Leser*innen, sich mit der sprechenden Person zu identifizieren. Das, was man da liest, ist nicht Sophie Passmann, es ist nur eine Person, die unter Umständen starke Ähnlichkeiten mit der Autorin aufweist. In »Faserland« war das Spiel mit der Identität mitunter interessant, in »Eurotrash« hat Kracht den Bogen überspannt und die Idee verkommt zu einem nervigen Kniff. Bei Passmann wirkt es mitunter so, als würde sie sich – bewusst oder unbewusst – einfach aus der Affäre ziehen wollen, unangreifbar machen. Wenn etwas unüberlegt gewesen sein sollte, dann wird es lauten: Na, das war doch der Witz.
Das ist deshalb interessant, weil die im Einband als Satirikerin bezeichnete Autorin durchgehend Aussagen und Erklärungen liefert, die mitunter streitbar sind, meist jedoch einfach banal wirken. Passmann stellt dem Text ein Zitat von Joan Didion voran, der kürzlich immer wieder – besonders auch von der Modewelt – zitierten amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin: »Do not whine / do not complain / work harder.« Didion ist eine der wenigen Frauen aus dem Großraum des New Journalism um Hunter Thompson und Tom Wolfe. Was die Schriftsteller*innen dieses New Journalism ausmachte, war ihre zwar faktenbasierte, jedoch äußerst subjektive Erzählweise, welche den Journalismus letztendlich zur Literatur erhob. Passmann scheint sich dieser Tradition anzunehmen. Jedoch triefen die knapp 200 Seiten nur so vor weinerlichem Gebrabbel, bei dem man sich oftmals wünschte, dass sie tatsächlich einfach ein bisschen »härter gearbeitet« und weniger »complained« hätte.
Klischees und Arschlöcher
Die Erzählung – vom »Spiegel« mitunter zum soziologischen Sachbuch mit »Sätzen, bei denen man den Like-Button sucht« hochstilisiert – rangiert zwischen etwas einfallslosen Twitter-Klischees (wenn beispielsweise von der Unumsetzbarkeit von luxuriösem Camping und deutschem Antifaschismus oder von Augenringen die Rede ist) und mal etwas treffenden, mal an den Haaren herbeigezogenen »Wer kennt’s nicht?«-Beobachtungen (irgendwas über eine gesteigerte Einsamkeit in der Dusche, denn nur man selbst kenne ja die Temperatur, die man brauche). Teilweise verliert Passmann sich – wenn beispielsweise von spanischen Expats mit traurigen Outfits die Rede ist – auch in zu gewollter, völlig trivialer (überhaupt nichts mit Thomas Bernhard gemein habender) Misanthropie. Hin und wieder schreibt die Protagonistin, sie könnte ja jetzt etwas beschreiben, würde es aber lieber lassen. Das kann man in der Literaturwissenschaft vielleicht zum Stilmittel erklären, es liest sich meist aber nur als faule Ausrede, nicht beschreiben zu müssen. Immer, so wirkt es, wenn Passmann kein passendes Adjektiv einfällt, bedient sie sich am schlichten, aber ausdrucksstarken »scheiße«. Oder eine beschriebene Person wird schlicht zum »Arschloch« (die Arschlöcher zum Beispiel, welche Rezepte aus dem Magazin einer Wochenzeitung nachkochen).
Oft klingt sie zynisch, selten jedoch konkret. Dann findet sie noch überall Nazis – wer würde es ihr verübeln – und kann von einer kleinen Analyse zum Aufstieg von Lena Meyer-Landrut (der Gewinnerin des European Song Contest 2010) gleich übergehen zu einer tönenden, aber hohlen Betrachtung des deutschen Mittelstandsfaschismus. Man könnte jetzt fehlendes Wissen kritisieren, Ungenauigkeiten anprangern (z. B. in Bezug auf ihre Anmerkungen zu Thomas Mann). Man kann sich aber auch wirklich aufregen. Zum Beispiel dann, wenn die Protagonistin heutige Feministinnen mit denen von früher vergleicht und lapidar anmerkt, dass der einzige Unterschied ja der sei, dass die Frauen, die den Feminismus erfunden hätten, ärmer gewesen wären als sie und ihre Freunde. Man möchte ihr (der völlig ignoranten Protagonistin) am liebsten feministische Klassiker wie Virginia Woolfs großartiges »A Room of One’s Own« an den Kopf werfen. Es gäbe so viele interessante Texte, die sich mit dem Zusammenhang von Ökonomie und Freiheit beschäftigen. Auch lohnte es sich, in die Biografien einiger Schriftstellerinnengrößen zu schauen. Selten waren sie arme Bäuerinnen, die nach ihrer Arbeit feministisch aktiv wurden. Schwamm drüber. Aber so ist sie eben, die Protagonistin. Will nur ja immer das Richtige tun und ist irgendwie ganz wütend. Weiß nicht so richtig, wohin mit ihrer Energie. Weiß nicht, was tun. Weiß nichts so genau.
Millennials aus Boomer-Sicht
Es gibt sie vermutlich wirklich, diese jungen Leute, die in Prenzlauer Berg wohnen und tagein, tagaus über alles meckern, jedoch nichts besser machen. Und diese Wut über eine zynische, kapitalistische, sexistische Gesellschaft lässt sie selbst, ohne dass sie es merken, genau so werden, wie Boomer sie sich vorstellen. Die Protagonistin von »Komplett Gänsehaut« ist eine mitunter verbitterte Vertreterin dieser »Lost Generation«, deren Mitglieder bei der Sinnsuche tatsächlich meist bei sich selbst anfangen und wenig in großen Maßstäben denken. Kapitalismuskritik ist vor allem Konsumkritik und Feminist*in ist u. a. bereits, wer es zu ökonomischer Unabhängigkeit schafft (z. B. als Influencer*in auf Instagram) – Antifeminist*in, wer diese seltsame Sichtweise auch nur ansatzweise kritisiert. Es gibt ein paar Seiten, auf denen die Protagonistin eine 12-Jährige kennenlernt und ihre Freundin wird. Diese Stelle ist schön, so stimmig, dass man meinen könnte, Passmann hätte das Buch ruhig auch auf diesem Konzept aufbauen können. Ihre Beobachtungen zu Teenagern sind konkret und die Protagonistin wird zur literarischen Figur – denn natürlich ist niemand wirklich mit 12-Jährigen befreundet. In diesem kurzen Exkurs lässt es einen jedoch eher denken, Passmann wäre nach 90 Seiten aufgefallen, dass sie sich für einen Roman schon auch noch mal etwas ausdenken müsste. Wie Kracht und die anderen eben.
Vielleicht klingt das zu gemein, möglicherweise würde es Passmann aber auch nicht hart treffen: Zu Anfang geht es um das »Bildungsbürgertum-Cosplay« ihrer Freunde beim Risotto-Machen in der Altbauwohnung: Sophie Passmann ist Bildungsbürgertum-Cosplay. Literatur für Leute, die wirklich interessiert sind, wirklich mal das Handy weglegen wollen. Aber hier brauchen sie das gar nicht. Begriffe, wie »BRD-Noir« klingen irgendwie verdaulich und so, als hätte man gerade was »Deepes« gelesen. Man soll sich denken dürfen, dass alle, die den »Zauberberg« gelesen haben und dreist behaupten, sie hätten ihn genossen, Hochstapler sind. Dass es Intellektuelle eigentlich nicht gibt, außer sie sind gänzlich zynisch und denken insgeheim wie man selbst auch. Passmann führt nicht – wie der »Tagesspiegel« kürzlich sinnierte – einen »Klassenkampf gegen die eigene Klasse«. »Komplett Gänsehaut« bleibt in seinen Beobachtungen ungefährlich oberflächlich und sollte nicht mit solch anspruchsvollen Schlagzeilen versehen werden. Und so ist Sophie Passmann Teil einer Kultur, in der man es anscheinend zu leicht hat, zum »Public Intellectual« zu werden.
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