Das hat sich der liebe Gott aber anders vorgestellt, als er seine Jünger die Berliner Zwingli-Kirche erbauen ließ. Die nämliche wurde am Sonntagabend des 29. September 2019 vom Nelkenzigarettenduft und der dazugehörigen Erscheinung Charlemagne Palestines und seinen berühmten zwei Gläsern Cognac bespielt. Zwar nur fast eine Dreiviertelstunde, doch die hat der 72-jährige Mitbegründer der Minimal Music in gewohnter Manier hochwertig »gefüllt«. Vor vollem Gotteshause im KulturRaum Zwingli-Kirche fand im Rahmen von »5 Seconds – Musik für Hall & Raum« seine Orgelperformance statt. Bürgerlich Chaim Moshe Tzadik Palestine bzw. Charles Martin oder wie auch immer, ein freundlich dreinblickender Herr, bunt bekleidet, mit lustiger Kappe, weiß seine Zuschauer*innen stets in den Bann zu ziehen. Die Empore mit einer bunten, lustigen Sockengirlande verziert, die Live-Übertragung seines Spiels per Projektor auf die Orgelpfeifen gebeamt, sodass man ihn auch von unten beobachten kann, die Atmosphäre sakral, andächtig, aber gelassen. Kein Vergleich mit der bedrückten Stimmung in einer katholischen Messe.
Cognacglas-Ständchen
Der aus der New Yorker Avantgarde kommende Artist tritt auf, schlägt in interessanten Abständen seine beiden Cognacgläser aneinander, testet den Klang der Innenarchitektur. Irgendjemand hinten antwortet mit einem ähnlichen Gläserklirren. Dass das Weinglas nicht nur eine Marotte ist, sondern ein eigenständiges, ernstzunehmendes Instrument, ist klar. Sein Können am Glas hat Charlemagne Palestine zum Beispiel gemeinsam mit Eiko Ishibashi auf der gemeinsamen 2012er-Veröffentlichung von Keiji Haino, Jim O’Rourke und Oren Ambarchi unter Beweis gestellt. Letzterer sitzt ebenfalls gewissenhaft lauschend in der ersten Reihe der Kirche. Dann beginnt Palestine zu singen, tief, schön, einnehmend, die Menge ist verzaubert. Nach ein paar Minuten huscht er dann die Empore empor und setzt sich ans Gerät. Der Cognac wird nach und nach getrunken, die einzelnen wenigen, langgezogenen Töne, behutsam mit den Zeigefingern angestoßen, eignen sich perfekt dazu. Als würde er sich und seiner Musik angeregt beim Spiel zuschauen. Nicht Melodien sind es, die gespielt werden, sondern erstmal ist es eine Stimmung, die das laute, schier endlose Summen der Orgelpfeifen im Raum erzeugt. Erst nach und nach gesellen sich zu den langsamen Tönen weitere hinzu, mehrere, auf die Grundstruktur des Sounds setzt es wiedererkennbare Abfolgen, die so zuckersüß und schön sind, dass man vor Freude fast weinen möchte. Die Zeit scheint fast still zu stehen, doch dann ist es auch fast schon wieder vorbei. Während des Konzertes verschwinden immer wieder einige Leute in eine Tür unter der Empore. Was hat das zu bedeuten? Erst später wird klar, es muss wohl der Toilettenraum sein.
Zu kurze Andacht
Dann stoppt die Musik, Palestine huscht behände die Treppchen herunter und steht wieder wie zu Beginn vor gebanntem und gespanntem Publikum und beginnt seinen Gesang, auf Hebräisch, wunderschön. Nach diesem zweiten Gang bewegt er sich kurz zu einem tragbaren Keyboard, das in der Mitte des Publikums bereitsteht, singt ein zweites Stück und dann ist es leider auch schon wieder vorbei. Bis auf den Appell, sich doch bitte für die Instandhaltung von Orgeln einzusetzen, damit jemand wie er sie auch bespielen kann. (Die sind, Nebeninfo, zumindest in Deutschland zu einem Großteil am Wegschimmeln und Wegrosten. Das ist nicht bloß schlecht für den Klang, sondern auch äußerst ungesund.) Es ist eine Freude, wie Charlemagne Palestine den ehemals düsteren Ort Kirche in einen Ort der Freude verwandelt hat. Andacht muss nicht immer mit Angst, Scham etc. verbunden sein. Doch leider war das viel zu kurz.