Es mag nicht die verquerste Idee sein, sich einem Album wie »Raw Power« mittels Heavy Philosophy zu nähern, aber gerade bei so genannten Klassikern und dem, was mitunter mittlerweile daraus gemacht wurde, gilt das alte Punk-Motto »Kill Your Idols« umso mehr. Wir wollen ja nicht umsonst unsere Jugend damit verschwendet haben.
»Raw Power« – ein »Wahrheitsereignis«?
In »Die Tücke des Subjekts« (2001) beschäftigt sich Slavoj Žižek eingehend mit dem Begriff »Wahrheitsereignis« im Sinne Alain Badious. Darunter ist ein Ereignis zu verstehen, das die »Wahrheit der Situation« (Žižek) entgegen deren »offizieller« Darstellung sicht- und lesbar macht. Wäre es nicht verlockend, »Raw Power« in diesem Sinne lesen zu können? Als Gegenentwurf zu der »Nicht-Wahrheit« von Rock?
Anders als »Exile On Mainstreet« von den Rolling Stones (das 1972 als »Wahrheitsereignis« unbewusst die eigene symbolische Ordnung zerstört, diesen Akt selbst aber gar nicht mitbekommt) operiert »Raw Power« 1973 nicht nur bewusster (die Stones zelebrieren ihre eigene Demontage als »Denn sie wissen nicht, was sie tun«), sondern auch von einem anderen Ort aus. Dieser Ort wäre jenes Außen, das sich zwischen »Detroit« (als einem speziellen, ebenso durch Soul und Funk wie durch Rock’n’Roll geprägten Außen innerhalb der US-Pop-Culture) und transatlantisch-europäisch geprägtem Glam-Rock entfaltete, in dem die Stooges (anders als die ebenfalls aus Detroit stammenden und ebenso exzessiven, jedoch immer noch an Rock’n’Roll, wenn mittlerweile ohne den Zusatz »Revolution« glaubenden MC5) einen Überschuss, einen nicht wirklich greifbaren Exzess darstellen.
Aber lässt sich überhaupt so einfach von »Wahrheit« sprechen? »Die Wahrheit ist ein Irrtum, der nicht mehr abgewiesen werden kann, weil er durch eine lange Geschichte hartgesotten wurde«, schreibt Nietzsche 1882 in »Die fröhliche Wissenschaft«. Müsste dann nicht auch die »Nicht-Wahrheit« von Irrtümern durchdrungen sein? Wollte »Raw Power« überhaupt eine »Wahrheit« artikulieren (jenseits des Sonischen)? Ist »Raw Power« nicht heute selbst Teil der »hartgesottenen« Rockwahrheit, die trotz Punk und Disco und House und Techno nie endgültig abgewiesen werden konnte?
Um aus »Raw Power« eine blöde »Rock Power« zu machen, genügt es schon, das Cover zu ignorieren. Und was sehen wir hier? Iggy mit nacktem Oberkörper in Drag, komplett mit platinblond gefärbten Haaren, Kajal um die Augen und silbernen »Tight Pants«. Das erinnert alles im allem eher an das queere, aus San Francisco stammende und auch eng mit der Szene um John Waters/Divine und die Warhol-Factory verbandelte »Total Sexual Anarchy«-Kollektiv »The Cockettes« (und an Nurejew) als an das, was 1973 unter »Rock« zwischen Led Zeppelin und Pink Floyd verstanden wurde.
Destroy the Signifikantenkette!
Wenn Glam-Rock das war, was Jacques Lacan einen »Stepppunkt« nennt, nämlich ein Ereignis, durch das eine Struktur sich nicht nur verschiebt, sondern verändert (indem ein neuer Herrschaftssignifikant auftritt), dann ist »Raw Power« innerhalb dieser Matrix der Stepppunkt des Stepppunktes, nämlich jener Punkt innerhalb der Signifikantenkette, an dem »der Signifikant das ansonsten endlose Gleiten der Bedeutung anhält« (Lacan). Ein abrupter Stopp, ein Bruch. Weder voraussehbar (also: ableitbar) noch inkludierbar. So gesehen haben »Raw Power« und Lou Reeds »Metal Machine Music« nicht nur den sonischen Exzess gemein. Beide agieren nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb von Pop als »Exiles«.
Erst als die Rock-Matrix in lose Signifikantenketten zerbrochen worden war (etwa auch durch das 1972 Roxy-Music-Motto »Re-Make/Re-Model«), konnte Punk erscheinen. Trotz allem historisch ausweisbaren Prä- und Protopunk bedurfte es erst noch der Rock-Dekonstruktion, um neue Verbindungen zu knüpfen und zuvor blinde Flecken sichtbar zu machen. Die Irritation des Mainstreams musste mit diesem selbst verbunden sein, um Dominoeffekte zu entfalten. Das retroaktive Vordatieren von Punk mag rhizomatischen Spaß machen, erfüllt aber eher nerdspezifische Bedürfnisse, anstatt den Kanon zu dekonstruieren.
»Raw Power« als »Wahrheitsereignis« zu hypostasieren, schafft die Möglichkeit, überall Spurenelemente und Reste dieses Ereignisses wieder zu erkennen (von den Sex Pistols über Guns N’ Roses bis Green Day, von KLF über Underground Resistance bis hin zu Burial). Nur so kann »Raw Power« als unhinterfragt »Wahrheitsereignis« überleben und als neuer Mythos (aka »Zeitenwende«) in einen (Rock-)Kanon zwangsintegriert werden. Der ursprüngliche Schock (als Stepppunkt, Bruch, Irritation, Fremdkörper) wird in die »Rock-History« entsorgt, wodurch das »Ereignis« von der Revolution zur Evolution verschoben wird. Ganz abgesehen davon, ob wir es hierbei mit (revolutionären) »Lokomotiven der Geschichte« (Karl Marx) oder mit dem (ebenfalls revolutionären) »Griff (…) nach der Notbremse« (Walter Benjamin) zu tun haben.
In diesem Erkennen (von »Raw Power« oder anderen pophistorischen »Stepppunkten«) als »Zeichen der Wahrheit« (Badiou) glaubt sich nun das Subjekt (als Fan) im Besitz eines »realen Kerns«, den das Ereignis besitzen soll. Nach Žižek kann jedoch das Erkennen immer nur »im begrenzten Mannigfaltigen einer Situation operieren«. Wir erkennen/operieren vor Punk anders als nach Punk, vor Techno anders als nach Techno. Dadurch erweist sich aber auch der Besitz jenes »realen Kerns« (etwa einer Originalpressung) als Phantasma. Als Imagination, in der das Subjekt schon glaubt, in eine (neue) symbolische Ordnung eingetreten zu sein, nur weil es sich die Ohren durchblasen lässt und nicht, weil es auf die erweiterten »Mannigfaltigkeiten einer Situation« (etwa durch neue Hörerfahrungen) stößt.
Im Pop-Kontext kann Žižeks Forderung nach dem (sofortigen) Abchecken besagter »Mannigfaltigkeiten einer Situation« jedoch entgegnet werden, dass sich dieses »Checken« oder besser gesagt »Diggen« vor allem auch nonverbal artikulieren kann: Zum Beispiel ganz einfach durch eine plötzlich andere Art sich zu bewegen, oder mit dem Arsch zu wackeln. Die sonischen Echos von »Raw Power« bei Theo Parrish oder Moodymann sind zuerst ja auch eher »In The Groove« zu finden (aka auffällig).
Sonischer Dub
»Raw Power« fängt an wie zu leise aufgenommen. Ein Wattebausch-Sound aus dem Nebenhaus, Keller. Unklar, indifferent, schwammig. Fast möchte lauter gedreht werden (wozu auch Zeit genug ist), doch dann bricht diese Gitarre als sonische Intensität ein. Als Lärm, Noise. Nun fast zu laut! Wenn das Konzept war, so ist es immer wieder aufs Neue irritierend (und erinnert an diverse Underground-Resistance-Maxis, die ihre unglaubliche Dynamik dem Verzicht auf Kompressoren oder Limiter verdanken). Zwar haben die Stooges bereits auf früheren Platten die Gitarre als eigenständiges elektronisches Tool aus dem Geist von Garagen-Punk, Jimi Hendrix und Velvet Underground neu definiert, aber hier kommt das Mischpult als neuer Faktor hinzu. Bowie dreht nicht einfach die Soli auf Anschlag. Er akzentuiert viel eher einzelne Parts der Rhythmus-Riffs, lässt sie rein- und rausdonnern, bricht sie ab, zieht sie kurz wieder rein, lässt sie plötzlich alleinstehen oder im Echo untergehen. Das stellt »Raw Power« ebenso in einen Dub-Kontext wie ganz nahe an Miles Davis’ 1973er Experiment »On The Corner« (auch hier werden einzelne Spuren immer wieder rein und raus gefahren). Ähnlich geht er bei den Soli vor. Ron Asheton (dessen visionäres Bassspiel auf »Raw Power« seinem Gitarrenstil in nichts nachsteht) spielte als Gitarrist »keinen Dixieland« mehr (wie es im Review zu »Funhouse« in »Sounds« treffend hieß) und konzentrierte sich stattdessen auf Sounds. Er spielte weniger Gitarre als die daran angeschlossenen Effekte.
Der neue Gitarrist James Williamson pfiff zwar auf Fuzzbox und Wah Wah, dachte aber ebenso wenig wie zuvor Ron Asheton (dessen unglaubliche Bassläufe zu »Raw Power« später das Fundament so mancher Spacemen-3-Nummer darstellten und immer noch einzigartig dastehen) in Noten, sondern in sonischen Dimensionen (mit teilweise frippertronischen Anwandlungen, zum Beispiel bei »Gimme Danger«). Bowie lässt diese »sonic assaults« ohne Vorwarnung einbrechen, akzentuiert sie wie die Riffs und kämpft mit den Intensitäten der Sounds. Immer wieder verschwinden sie, werden reines Rauschen, sind nicht identifizierbar (was rauscht da?). Selbst auf der CD-Version zerbröseln die übersteuerten Gitarren zu elektroakustischem Zischen und Brutzeln. Was auf Vinyl noch als (toller) Fehler (Kratzer) gedeutet werden konnte, erscheint nun als Prinzip bzw. als das Unumgängliche: »Raw Power« befindet sich jenseits des Aufnehmbaren, Fixierbaren. Dave Marsh hat das schon in seinem Review für »Creem« sehr genau erkannt, wenn er von »tremendous bursts of apocalyptic interstellar energy, limited only by contemporary technology« schreibt.
Nicht nur hierin finden wir Ähnlichkeiten zu »White Light/White Heat« (1968) von The Velvet Underground. Auch davon konnte es keinen ultimativen Mix, keine fertige Version mehr geben, egal wie viele Radio-Tapes, Rohmixe, Sessions oder Live-Konzerte noch erscheinen mögen. Dumpfes Grummeln und Dröhnen (gerade der Rhythm-Section) machen »Raw Power« zur ersten Dub-LP des Rock (falls wir hier überhaupt noch von Rock sprechen müssen) und koppeln sie doch zugleich auch in der von Ron und Scott Asheton ebenso stoisch wie funky fabrizierten maschinenhaften Motorik an Krautrock (Kraftwerk, aber vor allem Neu!) an. Vielleicht sind Suicide die einzige Band, die »Raw Power« schon in den 1970ern sonisch gelesen haben, immerhin erinnert das Wummern der Rhyhtmbox auf ihrer ersten LP genau an jenes pulsierende Grummeln, mit dem »Raw Power« für so viel Irritation sorgte.
Anfang oder Ende?
Im 2010 erschienen Buch »Die politische Differenz« unternimmt der österreichische Theoretiker und Philosoph Oliver Marchart unter anderem exemplarische Heidegger-Exegesen die der dekonstruktivistischen Herangehensweise von »Raw Power« gegenüber »Rock« durchaus ähnlich sind. So könnte das erwähnten Heidegger-Zitat »der Grund begründet als Ab-Grund« durchaus eine (aktuelle) Kurzrezension von »Raw Power« darstellen: Die Aufnahmen ein Jahr auf Eis gelegen, fast nicht wahrgenommen, Split der Band. Alles innerhalb von zwei Jahren (1972–1974).
Was soll aber die kryptische Rede vom »Ab-Grund«, der »gründet«, gleichzeitig aber »grundlos« ist? Mit Punk-Nihilismus kommen wir dabei nicht weiter (ein Blick in den Abgrund, so intensiv, dass dieser zurückblickt, wäre eine andere Geschichte). Wenn Oliver Marchart weiters schreibt, der »Ab-Grund bezeichnet den nicht abstellbaren Aufschub und Rückzug oder genauer ›Entzug‹ des Grundes«, dann lässt sich mit »Raw Power« eben kein Gründungsakt etablieren, sondern wir haben es mit einer »Ent-Gründung« (Marchart) zu tun. Auch bei »Never Mind The Bollocks« von den Sex Pistols stellt sich ja dieselbe Frage: War das der Anfang von Punk, oder das Ende von Rock? (Mit der späteren Gründung von Public Image Limited hat Johnny Lydon dann ja zumindest was Rock betrifft eine sehr deutliche Antwort gegeben.)
Einfacher gesagt: Es gibt keinen unhintergehbaren Grund, sondern viele Gründe, Gründungen. »Gründend und grundlos« (Marchart) zugleich verweigert sich »Raw Power« den üblichen Symbolisierungsstrategien, die Punk als soziales Phänomen, Iggy Pop als Junkie, oder die Stooges als Prä-Punk domestizieren wollen (nichts domestiziert Musik so sehr wie ihre Erklärung aus sozialen und delinquenten Verhältnissen sowie das Stigma »Vorgänger«, womit jegliche noch in ihr schlummernden »Future Shocks« einfach historisiert und zum Eigentum einer bestimmten, sich selbst platzierenden »Generation« gemacht werden).
»Punk existiert nicht«
Wer nach einem Ursprung sucht, sucht »nach dem genau abgegrenzten Wesen der Sache (…), nach ihrer reinsten Möglichkeit« (Foucault). Kurz nach einer Idee, einem Begriff, zu dessen Erklärung/Definition es keiner anderen Begriffe, Definitionen und Erklärungen bedarf. Nicht umsonst handelt die Rede von den Ursprüngen im ästhetischen Diskurs in der Regel von den »Formen« jener Ereignisse, die aus dem Nichts entstanden und singulär über uns gekommen sind. Aber ist es bei »Raw Power« nicht auch der Mix, der per se keine »reinste Möglichkeit« zulässt? Müssten wir bei »Raw Power« nicht eher Lacans berüchtigten Satz »La Femme n’existe pas« (»Die Frau existiert nicht«) adaptieren: »Punk existiert nicht«? Jedenfalls nicht als eindeutig fixierbare Formel?
Jetzt wäre es jedoch ebenso blind, zu behaupten, dass alles sowieso immer irgendwie von irgendwas ableitbar sei. Dann gibt es zwar ein permanentes Fließen, aber keine Brüche. Schon gar keine radikalen – und auch keine ästhetischen Erfahrungen in Form des Schocks. Nicht umsonst bedeutet für Badiou (wie für Deleuze) das »Ereignis« einen »Bruch«, der nicht ableitbar und vorhersehbar ist. Es entstehen neue Beziehungen, die sich jedoch nicht mit den alten Begrifflichkeiten erklären lassen. Die neue symbolische Ordnung ereignet sich als Lacanscher »Akt«, der die Zerstörung bisheriger Signifikantenketten (des Realen) bewirkt.
Der Bruch zwischen den im Prinzip ähnlich zornig-aufmüpfigen Outsider-Songs »Pushin’ To Hard« (The Seeds, 1965) und »No Fun« (The Stooges, 1969) ist bereits der Bruch mit der symbolischen Ordnung der Sixties. Während die Seeds noch an die Freiheitsversprechungen von »Sex & Drugs & Rock’n’Roll« glauben, gab es für die Stooges Freiheit nur noch als »Death Trip«. Oder als Jazz. Wie The MC5 wurden sie von John Sinclair im Dienste seiner Superidee eines »Heavy Jazz« lautstark mit Free Jazz beschallt (und dabei mit reichlich Dope versorgt). Aber während die MC5 Free Jazz quasi wortwörtlich nehmen, schnappen die Stooges einzelne Ideen auf (das Modulieren um einen Grundakkord etwa, das sich gut mit der Ein-Riff- bzw. Drones-Idee bei Velvet Underground kurzschließen ließ) und schicken diese durch eine Matrix, die vom Sound britischer Bands (Yardbirds, The Who) ebenso geprägt war wie von Jimi Hendrix bzw. Velvet Underground sowie den in Detroit agierenden Soul- und Funk-Acts.
Neben dem Riff hat »I Wanna Be Your Dog« ja auch noch etwas, was Rockbands so niemals hinbekommen haben (vor allem weil es ihnen herzlich egal war): Ein Drum-Intro als signifikantes Erkennungsmerkmal. Zudem transferierten The Stooges (und hier vor allem Gitarrist Ron Asheton) den Terminus »Technik« (auch im Sinne von »Spieltechnik«) gleich auf ihr elektronisches Equipment: Lieber Wah Wah als Gitarre spielen. Blues-(Rock) gibt es in diesem Universum nur als abstrakte Vorlage (was sich The Stooges unter anderem auch schön von John Coltrane, Pharoah Sanders und Sun Ra abgeschaut haben).
»Can You Feel It?«
Es ist diese »Unstimmigkeit des Anderen« (Foucault), ein prinzipielles Nicht-Einverstandensein, das uns bei den Stooges immer wieder begegnet (auch als Unstimmigkeit im Mix). Der vermeintliche Ursprung als »Grund« ist leer und sehr nahe am Nichts gebaut (ihm täuschend ähnlich). Er muss es sein (will er denn »Grund« sein), weil er jenseits bisheriger Möglichkeitsformen (schneller, härter, lauter) situiert ist und sich genau dort auftut, wo er nicht erwartet wird (zwischen den Polen Bowie und Reed gab es zwar immer Platz für Iggy & The Stooges, aber »Raw Power« verhält sich in diesem Ensemble ähnlich wie Reeds »Metal Machine Music« – als »unvorhersehbares Ereignis« im Sinne von Deleuze), und gerade deshalb das Denken dazu zwingt, sich zu ereignen.
Für Heidegger bedeutet ein »Unter-Schied« eine »Sache des Denkens«. Eine radikale Differenz, die einen Zwang ausübt. Weit davon entfernt, einfach nur eine Differenz zu sein (etwa zu den das Jahr 1973 dominierenden Progrock-Acts wie Pink Floyd, Genesis, Yes oder Mike Oldfield), markiert »Raw Power« eher eine »Differenz als Differenz« (Marchart). Ein Ereignis am Ort der Differenz (der erst später mal »Punk« genannt werde sollte). An einem jener Nicht-Orte, wo wir Pop ja immer gerne haben wollen, sofern wir damit immer noch so etwas wie utopische Potenziale verbinden oder mal verbunden haben. Eine virtuelle Potenzialität, »eine reine Reserve», ein radikaler Perspektivenwechsel als Störung des Realen. »Das Ereignis ist demnach kein Objekt, kein Referent und kein Gegenstand; oder genauer: Es ist eher ein ästhetisches, ein poetisches Ding.« (Deleuze)
Nur, was ist mit »Raw Power« überhaupt gemeint? Okay, »das Reale« (frei nach Lacan), aber das ist dann doch zu einfach und findet sich sowieso eher im Mix. Es stellt sich eher die Frage, warum der Titelsong von einem im Grunde vertrackten, nicht wirklich von der Stelle kommenden, immer wieder stolpernden Beat getragen wird. Gut, »Raw Power« hat einen Sohn namens Rock’n’Roll bekommen. Aber wird das noch einfach so geglaubt oder haben wir es hier mit einem Wunschdenken zu tun? Und immer wieder die Frage »Can you feel it?«/»Do you feel it?« – aber was denn eigentlich? Gibt es dieses »feel it«, welches wir gefühlt von fast jedem Song des Vorgängeralbums »Funhouse« (1970) her kennen überhaupt noch? Bei »Funhouse« lautete die Losung ja noch: »I Feel Alright«. Was, wenn es aber nichts mehr zu »fühlen« gäbe, wenn »Raw Power« die »Wahrheit von Gefühlen« einfach in Frage stellt? »Power is a guaranteed o.d.« meint ja auch die Begegnung mit etwas (bzw. die Erkenntnis von etwas), das zu viel für einen ist (»Raw Power can destroy a man«). Ein »magic touch«, der den sonischen Overkill umso zwingender macht. Das Nichts als Ende/Endpunkt im Sinne von »The Horror, the Horror« (Marlon Brandos letzte Worte in »Apocalypse Now«). Oder eben als (neuer) Anfang durch sonische Irritationen zwischen den Free-Jazz-Transformationen von »Funhouse« (exemplarisch etwa bei dem von Pharoah Sanders inspirierten Titelsong und dem echogetränkten Freakout »L.A. Blues« vorgeführt) und David Bowies Mix.
In beiden Fällen kann von einem per definitionem nicht symbolisierbaren Realen, also dem Überschuss, den ein traumatisches/unheimliches Ding produziert, gesprochen werden. Diese Unheimlichkeit als »verschobene/verzerrte/vernebelte« Übernähe eines sonst bekannten Objekts – in dem Fall Rock-Musik – verdankt sich jedoch vor allem dem stets kritisierten Bowie-Mix. Sicher hätte das Album auch ohne Bowie am Mischpult (kurz) Wellen geschlagen (und damit wohl auch den Sonic Blast von Bands wie Motörhead vorweggenommen), jedoch fehlt bei fast allen anderen Mixen dieses dumpfe Bassgrummeln, das nicht zuletzt einer der Gründe ist, wieso einem bei all dem plötzlich Dub in den Sinn kommt. Robbie Shakespeare hat Dub einmal als »Shadow of a song« definiert und dieses Schattenhaft-Gespenstische passt ja auch ganz gut zu »Raw Power« (wie später unter anderem zu Joy Division).
Gleichzeitig nehmen Iggy & The Stooges auch die »punk gesture« am Ende von Dennis Hoppers »Out Of The Blue« (1980) vorweg: Ein Album als Verzweiflungstat, bei der alles in die Luft fliegt. Eine Explosion, nicht als Anfang von etwas, sondern als Ende einer untoten Existenz (Call it Rock, call it Rock’n’Roll). »Raw Power«, vielleicht auch eine hauntologische Heimsuchung im Sinne von Marc Fisher? Why not? Nicht umsonst singt Iggy im Titelsong »Dance to the beat of the living dead«.
P.S.: »Raw Power« erschien am 7. Februar 1973 in England und im Juni desselben Jahres in den USA. In den USA wanderte das Album damals nicht mal 14 Tage nach der Veröffentlichung gleich in die Ramschkisten der Plattenläden. Der Legende nach soll jeder dieser Ramschkistenkäufe die spätere Gründung fast aller relevanten US-Punk-Bands in den 1970ern bewirkt haben.
P.P.S.: Neben dem »Original Bowie-Mix« (erkennbar am Fehlen eines Schriftzugs am LP-Cover) gibt es einen »entschärften« Bowie-Mix (erkennbar am Cover mit Schriftzug) sowie einen »Iggy Pop-Remix« aus 1997 sowie jede Menge Studio-Outtakes und einen quasi amtlichen »Original-Remix« auf der CD »Rough Power«, 1994 auf dem legendären Bomp!-Label veröffentlicht.
Die Erstfassung dieses Textes erschien 2010 in skug #83.