Wiesen ist mein Waterloo. Jedes Jahr bin ich für einen Tag sowohl Brite als auch Franzose. Jedes Jahr fahre ich für einen Tag hin, jedes Jahr ist es mühsam – Festival eben, und ich bin Spießer – jedes Jahr muss ich also meinem inneren Schweinehund trotzen, und jedes Jahr werd ich schlussendlich dafür belohnt. Vorigen Sommer z.B. wurde ich ebendort Zeuge eines unglaublichen, triumphalen, freude-, licht- und schweißstrahlenden Auftritts von Iggy Pop. Und um nur ja keine Spannung aufkommen zu lassen: Auch dieses Jahr hat sich der Besuch gelohnt.
Heuer begann mein Wiesen mit dem Auftritt von SOPHIA, einer Band, der ich – im Moment Nr. 2 auf der Weltrangliste im »blitzschnell Schubladen-Erfinden« – gern den Stempel »BerlinMitteSoftRock« aufdrücken möchte. Proper-Sheppard, Sänger und Mastermind der Band, ist aber eigentlich ein Amerikaner, der nach London gezogen ist: Trotzdem hört sich seine Musik für mich an wie die deutsche Version von Coldplay. Musikalisch ganz nett, ich möchte fast sagen ein solider Auftritt. Nichts gegen schöne, langsame, melancholische Melodien, aber ich fand nirgends einen Haken, ein Kante an der man sich hätte stoßen können, das machte mir das ganze etwas zu langweilig. Ein Freund meinte, der Sänger in seinem weißen Anzug sähe aus wie ein zukünftiger Doktor der Zahnmedizin – ihm war auch fad. Bandwechsel.
Echo & The Bunnymen
Mein Grund Nummer Zwei nach Wiesen zu kommen. ECHO & THE BUNNYMEN, Urgestein des düsteren Wave-Pop, schrieben bereits 1984 mit »The Killing Moon« einen Hit, der beständig in den Ohren vieler nachhallt. Langsam-traurig balladeske Melodien, Texte voll Weltschmerz und die unvergleichlich gramerfüllte Stimme des Sängers Ian McCulloch tragen dazu bei, dass die Band bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist.
1978 gegründet, nach einer 8-jährigen Schaffenspause 1997 reuniert, 2002 wieder kurzzeitig in der Versenkung verschwunden, bestehen Echo & The Bunnymen mittlerweile nur noch aus Ian McCulloch und Will Sergeant, die sich von verschiedenen Musikern unterstützen lassen.
Unlängst haben sie ein neues Album, »Siberia«, herausgebracht. Vor uns also fleischgewordene Musikzeitgeschichte, und auch beim Konzert bewahrheitet sich: Diese Band ist ein Kind ihrer Zeit. Denn ob Novalis‘ blaue Blume oder Ian McCullochs schwarze Sonnenbrille: Die Frucht vom Baum der Erkenntnis schmeckt bitter, deswegen rauchen wir auch so viel. Kein Wunder, dass Melancholie und Weltschmerz nicht nur eine Dekade, sondern vormals ein ganzes Jahrhundert beherrscht haben.
Düstere Klangteppiche, Ian McCullochs großartige Stimme, Gittarrenverzerrer, Synthie-Anleihen…ein Lied, eine Zigarette folgte der andern; mit Songs wie »Killing Moon« und »Stormy Weather Today, aber auch zwei sehr gelungen Adaptionen von Songs der Doors stellte die Band ihr Können unter Beweis. Melancholie kann auch schön sein, vor allem wenn man als Zuhörer so davon profitiert.
Für alle, denen der Weltjugendtag nichts gibt…
Und dann das Finale: NICK CAVE auf der Bühne, mit ihm seine Bad Seeds und zwei Background-Sängerinnen und… unglaublich viel Energie. Es schien fast so, als hätte Gott ihm, dem Meister des Sinistren, nicht nur Wort und Stimme, sondern auch Unsterblichkeit verliehen. Sicher, unsterblich ist Nick Cave längst, in den Herzen seiner Fans, in den Augen der Kunst- und Musikproduzenten. Und so haftete diesem Konzert etwas Ewiges an, etwas Heiliges möchte man fast sagen, wenn Songs wie »Wheeping Song« oder »Children« vom Künstler wie vom Publikum einer Messe gleich zelebriert wurden. Andächtig wurde gelauscht, inbrünstig mitgesungen, mitgeklatscht, mitgelitten. Emotionen: Sie steigen auf, werden durch die Menge immer höher getragen, bis zum Himmel. Warum gehen Menschen auf Konzerte? Weil sie kurz das Gefühl haben können, nicht allein zu sein.
Warum gehen Menschen auf Nick Cave and The Bad Seeds-Konzerte (…und zahlen für einen Abend im burgendländisch Gebirnbäumten 50 Euro Eintritt)? Weil Nick Cave Kraft hat, weil seine Stimme mitreißt, bewegt und andächtig verharren lässt – sogar bei den wirklich kirchenlastigen Nummern.
Eineinhalb Stunden dauerte das Konzert. Nick Cave and The Bad Seeds zeigten ihr großes Repertoire, »From Here To Eternity« bis »Abattoir Blues/The Lyre Of Orpheus«, von »Mercy Seat« bis »Supernaturally«. Ein großartiges Konzert, ein wunderschönes Ereignis.
Wieder zurück in Wien war ich mehr als glücklich. Auch meine Nationalität hatte sich eindeutig geklärt: Ich bin Wellington nach der Schlacht von Waterloo. Wiesen hat sich gelohnt.