Gleich nach der Veröffentlichung überdeckte ein Skandal das Buch und damit die Literatur. Houellebecq sei rassistisch, sexistisch, gemein … kurz: ein Horror. So wie bei Costes überholt die Fiktion die Realität, und daher will niemand sich darauf einlassen, über die Grenzen des globalen Dorfes hinaus zu denken. Keine Differenz, überhaupt keine Genauigkeit und vor allem keine verwirrenden Wahrheiten. Es ist lächerlich, aber heutzutage dermaßen alltäglich. Das Reale, um es so zu sagen, ist unannehmbar; das bestätigt sich ständig und jedes Mal. Wir erwarten von dieser aktuellen Welt nicht, dass sie einen anderen Weg einschlägt … Michel – ein normales Individuum am Beginn des 21. Jahrhunderts – ist ein Buchhalter und Kulturfunktionär, der den Tod seines Vaters kommen sieht. Sehen wir uns das an: »Meine Träume sind mittelmäßig. Wie alle Bewohner des abendländischen Europa wünsche ich mir, zu reisen … Ich liebe die Reisekataloge, ihre Abstraktion, ihre Art, die Orte der Welt auf einen begrenzten Ausschnitt des möglichen Glücks und der Preise zu reduzieren … Ich war nicht glücklich, aber ich schätze das Glück und werde mich weiter nach ihm sehnen … Die ganze Welt findet sich zurecht, gewiss, aber wie und vor allem warum? … Es liegt nicht an mir, dass man davon wegkommt, neue Einstellungen, neue Beziehungen zur Welt zu erfinden oder einzunehmen … Mein Schluss ist, von nun an, sicher: die Kunst kann das Leben nicht ändern. Meines jedenfalls nicht.« Der Tourismus ist zweckmäßig. Zwei Fingerhüte voll Besichtigung, drei Postkarten und der Rest bezahlter aber dennoch heilbringender Sex. Ohne jeden Zweifel, Houellebecq erfindet nichts. Er zeigt und spricht kaum, was man ihm seitens der guten Franzosen – bald Europäer – zum Vorwurf macht. »Frankreich war ein unheimliches Land, gänzlich unheimlich und voller Bewunderung.« Kommen wir auf das Empfindliche zurück: »Meine Begeisterung für Katzen nahm nicht ab, ich sah in ihr einen meiner letzten erkennbaren, gänzlich menschlichen Züge; ansonsten wusste ich es nicht mehr sehr gut.« Eigentlich ist das Reale, wie auch Lacan sagt, das, was überragt. Es überragt genauso, wie das Mobiltelefon, das Internet, oder selbst der umfassende Schwachsinn ein Individuum XY überragen können. Das woran man nicht mehr denkt – das System verkauft es euch, weil ihr es kauft – ist sehr einfach und funktioniert wunderbar. Der einzige Haken daran ist, dass es euch niemals von diesen unbestreitbaren menschlichen Trieben befreien wird. Dieser Roman handelt vom Alltäglichen, von Banken, von Geschäften und von einer seltsamen Epoche ohne Zurückschrecken und Gedächtnis, in der die gesprochene Sprache zu Gunsten der Kommunikation erloschen ist. Eine gemeinsame Welt macht einsame Leute. Hier könnte man der schriftlichen Korrespondenz, der Oralität und den Bordellen sowie der Theologie und dem Fortschritt immer nachtrauern. Man wird über diese hiesige Welt nicht hinauskommen. Jetzt und hier, bis zum Schluss … Die Sprache, sie bleibt dabei, ein so Gesagtes in den Mund zu legen. Und warum sollte man sich von der Sprache in dieser Welt – weil es unsere ist – nicht noch einmal umschließen lassen? »Soziale Normen gibt es nur als Fehler jeder sexuellen Norm.« (Lacan) Man denkt sehr stark an das Begehren und seine Erfindungen, um sich in der Gruppe Recht zu verschaffen. Der maoistische Entrismus kann solchen Spiegeleffekten oder Veränderungen erneut gut dienen. Das ist bei diesem Buch unmissverständlicher Weise der Fall. Guten Tag, Michel! Viel Spaß beim Lesen und schauen Sie bei Ihren Nachbarn vorbei!
Michel Houellebecq: »Plateforme, Flammarion« (Edition Francaise), 370 Seiten/20 Euro.
Deutsche Ausgabe erschienen bei: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG
aktueller Termin: Michel Houellebecq liest am 10.02. im Rabenhof aus seinem neuen Roman »Plattform«