Alfred Biolek, verstorben 2021, ist aus der bundesdeutschen TV-Kultur der 1980er und 1990er nicht wegzudenken. Während Thomas Gottschalk den Samstagabend zur Prime Time dominiert, prägt Biolek die Fernsehkultur auf leisere, aber nachhaltige Weise: In Formaten wie »Bio’s Bahnhof«, der Talkshow »Boulevard Bio« und der Kochsendung »Alfredissimo!« kultiviert er eine Mischung aus Smalltalk und journalistischer Tiefe. Biolek kommuniziert verbindlich, ohne kumpelhaft zu werden. Mit Gästen bleibt er zumeist per Sie. Persönliche Positionen fließen ein, jedoch eingebettet in größere Fragestellungen. Er ist sachlich, unaufgeregt und zugewandt. Mit diesem Stil und seiner journalistischen Sorgfalt genießt er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen großes Vertrauen. Selbst hochrangige Akteure der Weltpolitik suchen diesen Rahmen – wie etwa Vladimir Putin und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, die 2002 bei »Boulevard Bio« gemeinsam an seinem Tisch sitzen.
Aufsteiger unter Erklärungsdruck
Zehn Jahre zuvor empfängt Biolek dort einen Gast, der global ungleich weniger Bedeutung hat, das Publikum aber in besonderer Weise beschäftigt: Stephan Weidner, Bassist und kreativer Kopf der Rockband Böhse Onkelz, die mit dem Album »Heilige Lieder« (1992) gerade einen großen Charterfolg verbuchen – mit Top-10-Platzierungen in Deutschland und Österreich. Der Zeitpunkt des Auftritts ist heikel. Kurz zuvor war es im ostdeutschen Rostock-Lichtenhagen zu Angriffen auf ein Wohnheim für Asylwerber*innen gekommen – die Bilder der Ereignisse gehen um die Welt. Der rechtsextreme Terror im frisch wiedervereinigten Deutschland fordert damals mehrfach Todesopfer. In dieser Situation stehen die Böhsen Onkelz als Aufsteiger unter dem öffentlichen Druck, sich klar von ihrer Vergangenheit im rechtsextremen Skinhead-Milieu zu distanzieren. Während die deutsche Metal-Presse (»Metal Hammer«, »Rock Hard«) die Band schon bald zu Coverstars macht, bleiben andere Medien zumeist auf Distanz.
Bei »Boulevard Bio« soll Stephan Weidner, damals 29 Jahre alt, Rede und Antwort stehen. Die Sendung ist kein Tribunal, sondern ein Gesprächsformat mit fairen Spielregeln. Dieser unaufgeregte Rahmen setzt den Ton für einen bemerkenswerten TV-Moment dieser Ära. Biolek tritt intellektuell auf, aber nie übermäßig abgegrenzt. Sein journalistisches Interesse wirkt aufrichtig. Weidner muss sich kritischen Positionen stellen, wird aber niemals vorgeführt oder beschämt. Bei Bedarf wird er jedoch klar korrigiert. Als Weidner etwa den deutschen Phono-Verband im Zusammenhang mit einem möglichen Ausschluss der Böhsen Onkelz aus den Charts als »Faschisten« bezeichnet, greift Biolek sofort ein – nicht empört, aber bestimmt. Die Szene demonstriert Bioleks leise Autorität. Weidner zeigt sich diesem Ton gegenüber weitgehend respektvoll, bezeichnet »Boulevard Bio« an anderer Stelle des Gesprächs sogar leicht ironisch als »einigermaßen seriöse Sendung«. Biolek quittiert das mit einem wissenden Lachen. Der Moment zeigt, wie sicher er die Balance zwischen kritischer Distanz und Gesprächsoffenheit hält.
Verpuffte Provokationen
Weidner pariert einige von Bioleks Kontextualisierungen zunächst mit dem Satz: »Das seh’ ich ’n bisschen anders.« Seine anschließenden Erklärungsversuche folgen einem Muster: Der Band werde »das Wort im Mund herumgedreht«, vor allem »von den Medien«, die er als missgünstig und manipulativ darstellt. Mit dieser Form einer pauschalen Medienskepsis ist Weidner seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Es folgt ein Motiv, das entpolitisieren soll: »Ich mag weder ’ne rechte Bewegung noch ’ne linke Bewegung – ich mag keine politischen Extreme.« Biolek steigt an dieser Stelle nicht in eine Diskussion über die Hufeisen-Logik ein, die links und rechts gleichsetzt. Stattdessen greift er Weidners rhetorische Konstruktion auf und führt ein Beispiel aus der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ein: Während des RAF-Terrors standen Schriftsteller wie Heinrich Böll unter Rechtfertigungsdruck. Damit schlägt Biolek einen klugen Bogen – die Botschaft lautet: Wenn Böll sich erklären musste, darf man das auch von einem Rockmusiker verlangen.
Immer wieder zeigt Biolek im Gespräch eine disziplinierte Zurückhaltung. Angesprochen auf eine mögliche Namensänderung der Böhsen Onkelz, fragt Weidner: »Würden Sie Ihren Namen ändern, nur weil Sie Ihrem Nachbarn mal vor die Tür geschissen haben?« Im Publikum sind vereinzelte Lacher zu hören – vielleicht amüsiert, vielleicht verunsichert. Weidners derbe Analogie soll entlasten – weg vom politischen Problem, hin zu: Fehler machen wir doch alle mal. Biolek lässt sich auf diese Tonlage nicht ein. Trotz des hohen Gesprächstempos von Weidner sagt er schlicht: »Ja, gut«, senkt den Blick, schaut in die Moderationskarte und führt die Unterhaltung sachlich weiter. Biolek zeigt sich damit professionell und milieukundig. Er weiß, dass die politische Auseinandersetzung mit den Böhsen Onkelz nicht von herablassenden Gesten getragen werden darf. Damit demonstriert er: Es geht hier nicht um Umgangsformen, sondern um Inhalte – und die sind noch nicht geklärt. Weidners Provokation verpufft.
Der Modus der Dauerverteidigung
In den Sprechpausen lacht Weidner manchmal still in sich hinein – schwer zu deuten, aber prägend für die Spannung des Gesprächs. Biolek nutzt diese Atmosphäre nicht aus, sondern gibt seinem Gegenüber immer wieder Raum. Zwischendurch zeigt er ein kurzes Konzertvideo: In den ersten Reihen ist ein junges Publikum in Rock- und Metal-Optik zu sehen, visuell vergleichbar mit damaligen Metallica-Konzerten. Weidner kommentiert süffisant, dass keine Skinheads zu sehen seien, also kein visueller Bezug zur rechtsextremen Szene. Biolek winkt freundlich ab und merkt an, es handle sich um ein Promo-Video der Plattenfirma: »Das besagt nichts.« Damit entkräftet er nicht nur Weidners Versuch, über den Bezug auf ausgewählte Szenen Entlastung zu schaffen, sondern zeigt zugleich ein feines Gespür für die professionelle Medienarbeit der Böhsen Onkelz – ein Bewusstsein, das viele andere zu diesem Zeitpunkt noch nicht haben.
Es folgt ein kurzes Studiogespräch mit dem Journalisten Walter Wüllenweber (»Berliner Zeitung«, später »Stern«). In diesem Moment nimmt Weidner einen deutlichen Schluck aus seinem Bierglas – eine kleine, aber sprechende Geste: vielleicht ein Versuch, sich zu erden oder sich zu wappnen. Wüllenweber berichtet von eigenen Beobachtungen bei Konzerten – Schlägereien, Hitlergrüße im Publikum, ein rassistischer Bühnenkommentar. Weidners Körpersprache signalisiert Distanz: Seine Sitzhaltung bleibt abgewandt, Blicke kommen aus dem Augenwinkel. Dann kippt die Stimmung: »Sie sind ja wohl der größte Lügner, den ich je gesehen habe!« Auch jetzt bleibt Biolek erstaunlich ruhig. Wer bei ihm eingeladen ist, darf sprechen, das gilt für alle. Vermutlich weiß er intuitiv: Nicht zu sehr eingreifen, die Szene spricht für sich. Der Auftritt entzieht sich bis heute weitgehend der gängigen Erzählung vom »unfairen« Medienumgang. Das liegt wohl wesentlich an diesem Moment: Weidner erhält eine faire Chance – und bleibt dennoch nicht souverän.
Universelle Projektionsfläche
Heute leben die Böhsen Onkelz in Wohlstand und haben erwachsene Kinder, Gitarrist Matthias Röhr ist Hobby-Winzer. Nichts davon ist ein Geheimnis. Doch im Konzertprogramm der Band geht es weiterhin um andere Motive. Die Lyrics der Böhsen Onkelz sind oft sloganartig und, wie schon Biolek im Gespräch bemerkt, unpräzise. Gerade dadurch werden sie zeitlos – als eine nahezu universelle Projektionsfläche: Viele ältere Songs lassen sich bei Bedarf etwa mühelos auf Krisenerzählungen der Gegenwart übertragen. Soziale Vereinzelung? »Auf gute Freunde«. Covid-Krise? »Finde die Wahrheit«. Selten wird thematisiert, dass die Band auf musikalischer Ebene keinesfalls außergewöhnlich ist. Vergleicht man ihre Songs beispielsweise mit dem Working-Class-Rock von Rose Tattoo oder der Outsider-Ästhetik im autobiografischen Streetpunk von Social Distortion, entzaubert sich der Mythos ihrer Unvergleichbarkeit: Die Böhsen Onkelz sind eine lokale Ausprägung international verbreiteter Formen von Rockmusik. Wenn ein Reim nicht ganz sitzt oder Sänger Kevin Russell eine Zeile eher hineinschiebt als klassisch phrasiert, wirkt das nach außen wie ein Makel. Nach innen jedoch stützen diese Momente musikalisch die Erzählung von Unangepasstheit, die das Image der Böhsen Onkelz trägt.
Was die Band tatsächlich unterscheidet, ist der Modus der permanenten Defensive. Bei den Böhsen Onkelz geht es um das Teilen von Schmerz – und um das Austeilen gegen alle, die als Ursprung dieses Schmerzes markiert werden. Damit füllt die Band bis heute große Hallen, Stadien und riesige Open-Air-Areale. Für eine Musik, die sich ideal zum kollektiven Mitsingen der großen Slogans eignet, sind das stimmige Resonanzräume: Orte, an denen die Grenze zwischen »ich« und »wir« hinfällig wird. Selbst wenn 120.000 Menschen zusammenkommen oder der etablierte Schauspieler Ben Becker als Ansager mitwirkt, verstehen sich die Böhsen Onkelz nicht als Mainstream, sondern als eine besonders große Gegenkultur. Gerade deshalb bleibt der Auftritt bei »Boulevard Bio« als medienhistorischer Moment weiterhin relevant: Hier trifft die Selbstinszenierung der Böhsen Onkelz auf ein Umfeld, das nicht eskaliert und damit das kommunikative Muster der Band zu einem frühen Zeitpunkt sichtbar macht: die Attacke, dargestellt als Gegenwehr.











