Joe Tunis betreibt Carbon Records seit 1994, also seit über dreißig Jahren! Und die dreihundertste Veröffentlichung ist eine Compilation mit dreizehn zeitgenössische Künstler*innen, nicht nur aus dem gegenwärtigen Programm seines Underground-Labels, sondern auch dem erweiterten Umfeld der Szene. Welche Szene? Die, die eigensinnige Musik neben den guten Ton stellt und in Kleinstauflagen veröffentlicht. Auf Carbon Records erschienen über die Jahre etwa Free Jazz, Noise (mit und ohne) Rock, instrumentale Gitarrenmusik, experimentelle Klangkunst, verschrobene Singer-Songwriter, Geräusche von Eintagsfliegen und Alben von Musiker*innen, die seit Langem und aus einer selbstbewussten Haltung heraus zu dem, was Musikbusiness sein will, einen gewissen Mindestabstand halten. Die Leute machen ihren Kram, Joe Tunis veröffentlicht ihn, zusammen bilden sie ein soziales Geflecht, das von außen als Szene beschrieben werden kann, auch wenn die Akteur*innen sich untereinander gar nicht alle persönlich kennen (müssen). Solche international verzweigten Gebilde sind gefährdet: sozio-ökonomische Umstände, volkswirtschaftliche Manöver (Zölle, Steuern, Fertigungskosten von Tonträgern, die Schließung von Orten), klimatische Bedenken, steigende Lebenshaltungskosten etc. bedrohen die Mobilität der Leute, die Auftrittsmöglichkeiten, den Warentausch der limitierten Artefakte – und damit letztlich (auch) die Kreativität, die geistige Stabilität und die allgemeinen Aussichten aller, die involviert sind und denen all das etwas bedeutet.
Es wird alles nicht unbedingt leichter … Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin ein kleiner Teil davon und stelle hin und wieder meine eigenen Ressourcen zur Verfügung, um Künstler*innen auf Tour in der Fremde eine Heimstatt zu bieten. Ich kenne daher auch eine Handvoll von Musiker*innen, die auf Carbon Records veröffentlicht haben, sie saßen in meiner Küche und wir haben uns gefreut, dass wir eine gute Zeit haben. Mit diesen Bemerkungen im Rahmen der Besprechung einer Schallplatte will ich keine Klagemauer hochziehen oder mich sonstwie aufmandeln, sondern in Erinnerung rufen, welche Bedeutung solche Graswurzelbewegungen auch haben: Sie tragen in bescheidenem Rahmen zur sogenannten Völkerverständigung bei. Schon klar, es ist ein bestimmter Sozialtypus, der sich da über den Weg läuft, trotzdem: Szenen, verstanden als international vernetzte Milieus und nicht bloß im eigenen Saft schmorende, exklusive Communities, sind nicht zuletzt ein bescheidener Beitrag zur Prävention von Vorurteilen, Dummheit, Hass und sonstigen geistigen Trägheiten. Sich nicht abzuschotten, unterwegs zu sein und in der Ferne die Erfahrung von interessierter Offenheit und Gastfreundschaft zu machen, kurz: die internationale Begegnung – das kann alles gar nicht hoch genug bewertet werden in Zeiten, in denen Grenzen wieder schärfer kontrolliert werden, die Kriminalisierung von Migrationsbewegungen voranschreitet und andere Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle sich dramatisch entwickeln. Davon sind alle Menschen, darunter auch Musiker*innen, betroffen, die – je nachdem, wo sie herkommen und was sie im Pass stehen haben – nicht mehr weg-, weiter- oder ankommen und ihre Pläne (ästhetisch wie lebenspraktisch) ganz allgemein immer schwerer, weniger oder gar nicht umsetzen können.
Hier kommen wir zurück zu Joe Tunis und seinem Label, das seinen dreißigsten Geburtstag und die dreihundertste Veröffentlichung feiert. Vor den gerade angestellten grundsätzlichen Überlegungen wird hoffentlich klar, dass »The Sun Is Not True« nicht bloß eine Schallplatte mit irgendwie randständigem Gedöns drauf ist. Sie ist ein Lebenszeichen, ein vitaler Ausdruck von Kreativität und beeindruckend hartnäckiger Arbeit an und ausdauernder Dokumentation von nicht so angepassten ästhetischen Ausdrucksformen und Lebensweisen. Auch das ist ja schwierig geworden: von Alternativen zu sprechen … semantisch vermintes Gelände. Auch hier muss man sich vorsichtig und umsichtig bewegen. Aber kein Grund zur Klage, es ist nach wie vor möglich, zum adäquaten (ästhetischen wie politischen) Ausdruck zu finden – nicht so hegemonial, nicht unbedingt mit Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit, aber trotzdem klar, freundlich und einladend. Dreizehn Beiträge gibt es zu hören. Ensemble Folk mit Liam Grant, Grayson McGuire und Trevor McKenzie, instrumentale Gitarrenmusik mit Rob Noyes und Ethan WL, Lo-Fi-Noise-Experimente von Projekten wie Spatulas, Holt Bodish und Greymouth sowie Beiträge von Veteranen wie Mikel Dimmick (Pelt), Bruce Russell (Dead C) … und Thurston Moore ist – so wie in jeder zweiten TV-Rockmusik-Doku – auch mit dabei! Macht nix, geht alles klar! Carbon Records 300, herzlichen Glückwunsch – auf die nächsten dreihundert Releases!











