nebengleis-cover
Various Artists

»Musik vom Nebengleis«

Quirlschlängle

Das Leipziger Label Quirlschlängle ist die operative Basis von Brannten Schnüre. In den vergangenen zehn Jahren hat das ursprünglich in Würzburg beheimatete Duo einige Wellen geschlagen. Innerhalb kurzer Zeit wurden die ersten, nur auf Kassette veröffentlichten Aufnahmen als Vinyl-Auflagen wieder zugänglich gemacht, neue Alben erschienen und alles verkaufte sich international wie geschnitten Brot. Woran lag bzw. liegt das? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Eine ist sicher, dass die gleichermaßen märchenhaft verklärten sowie auf banale Alltagsbetrachtungen bezogenen Texte, vorgetragen mit der mädchenhaften Stimme von Sängerin Katie Rich, über Sprachbarrieren hinweg die Fantasie anregen. Was säuselt sie einem da traumverhangen ins Ohr? Unterlegt sind diese Texte mit schwermütigen und vor sich hinbrütenden musikalischen Collagen, die an Folk, Dark Ambient und Post Industrial Music Anleihen nehmen. In der Kombination von Text und Musik erzeugen Brannten Schnüre eine sehnsüchtig-romantische und gleichzeitig nüchtern-registrierende Atmosphäre und halten so eine ästhetische Spannung zwischen Weltflucht und auf den Moment bezogener Geistesgegenwart: Jede Geste bedeutet die Welt und ihren Untergang gleichzeitig. Hinzu kommt, dass sich das Duo rar macht, kaum Bühnen betritt und Interviews verweigert und so eine enigmatische Aura entwickelt und erhält. 

Die Vorliebe für alles geheimnisvoll Verborgene, das Unentdeckte, Rätselhafte oder gar Okkulte zeichnet auch »Musik vom Nebengleis« aus, die musikalische Zusammenstellung einer Reihe von Künstler*innen aus dem Umfeld des Labels, kuratiert von Label-Macher Christian Schoppik. Der ist mit seinem Soloprojekt Läuten der Seele ebenso vertreten wie auch Brannten Schnüre, die das exklusive »Weckerlied« präsentieren. Darüber hinaus finden sich mit Vox Populi! und Christoph Heemann sowie der Klangkünstlerin Limpe Fuchs wenigstens drei auch jenseits informierter Kreise bekannte Künstler*innen wieder. Deren musikalische Beiträge stehen neben weitgehend unbekannten Namen, wie dem der Griechin Margot, über die auch nicht viel in Erfahrung zu bringen ist, und randständigen Projekten wie den litauischen Skeldos oder Niedowierzanie aus Frankreich. In der Summe ergibt sich ein heterogenes, aber in sich stimmiges Hörerlebnis, eine abwechslungsreiche Reise durch die esoterischen Klangwelten des Quirlschlängle-Labels. Die individuelle Handschrift der Zusammenstellung erinnert an Steven Stapletons »An Afflicted Man’s Musica Box«, die 1985 auf United Diaries erschien und ebenfalls musikalische Außenseiter, Eigenbrötler und Mauerblümchen versammelte. 

So weit, so gut – sehr gut sogar. Nun zwei abschließende und überschießende Gedanken zur Funktion und Wirkungsweise solcher Zusammenstellungen. Zum einen funktionieren solche Alben wie ein Talisman, sie signalisieren Zugehörigkeit: It’s Magick! Zum anderen unterliegt das Suchen, Finden und Bewahren von musikalischen Obskuritäten und Kostbarkeiten einer delikaten Dialektik: Einmal aufgespürt, präpariert und der Öffentlichkeit präsentiert, droht das Gefundene im grellen Licht der Gegenwart zu verblassen und seine zarte Aura einzubüßen. Daher stellt sich auch die Frage, für wen die »Musik vom Nebengleis« zusammengestellt wurde. Wer ist der Adressat, das imaginierte Gegenüber dieser Veröffentlichung? Alle Archäolog*innen des Undergrounds spitzen für einen Augenblick die Ohren und freuen sich über frische akustische Artefakte, müssen aber auch umgehend wieder zurück ans Werk und selbst in den digitalen Weiten des Internets und staubigen Hinterzimmern von Plattenläden nach ungehobenen Schätzen weitersuchen. Wer quasi naiv auf die »Musik vom Nebengleis« stößt, hat vielleicht mehr von ihr, kann sich überraschen, verzaubern und fallen lassen, ohne mit dem nagenden Gefühl des Zuspätkommens umgehen zu müssen. In Ergänzung zu diesen philosophischen Spekulationen ums Elend der Distinktion noch der Hinweis, dass die »Musik vom Nebengleis« ausschließlich auf Vinyl veröffentlicht werden wird und in den kommenden Wochen nur über das Label direkt und den entsprechend spezialisierten Fachhandel (Soundohm und andere ausgewählte Vertriebswege) zu beziehen sein wird. Um im Sprachbild des Titels der Zusammenstellung zu bleiben: Wer ein Exemplar haben will, wird sein Ohr aufs Gleis legen und dann schnell reagieren müssen.    

favicon

Unterstütze uns mit deiner Spende

skug ist ein unabhängiges Non-Profit-Magazin. Unterstütze unsere journalistische Arbeit mit einer Spende an den Empfänger: Verein zur Förderung von Subkultur, Verwendungszweck: skug Spende, IBAN: AT80 1100 0034 8351 7300, BIC: BKAUATWW, Bank Austria. Vielen Dank!

Nach oben scrollen