Die norwegische Band Ulver hat Wandlung und Erneuerung bereits vor langer Zeit zum vorrangigen Prinzip ihres Musikschaffens erhoben. Dennoch finden sich in dem Schaffen, abgesehen vom Album »Perdition City«, mit dem Ulver ihr Black-Metal-Gebaren endgültig ad acta legten, keine Brüche, sondern Übergänge und vorübergehende Identitäten. Seit dieser Platte pulsiert das dunkle Musikherz der Band jedenfalls konstant im fast gleichen Rhythmus. Die Substanz der Musik ist unverändert, obwohl die Norweger über die dann kommenden Jahre heftig mit angeschrägter Elektronik, progressiven Rockspielarten und zuletzt mit Popmusik geflirtet haben. »Flowers of Evil« ist in diesem Zusammenhang eine Überraschung, da es eigentlich auf den ersten Blick überraschungsarm ausfällt. Die Bewegungen der genrefluiden Band, deren einzig verbleibendes Mitglied der Urbesetzung Kristoffer »Garm« Rygg ist, sind weniger deutlich als noch beim Vorgänger »The Assassination of Julius Casear«, bei der einem der Sprung hin zu tanzbarem Dunkelpop auf Schritt und Tritt begleitete. »Flowers of Evil« ist hingegen eine Verfeinerung, Vertiefung und detailverliebte Ausarbeitung der Möglichkeiten, die man sich 2017 erschloss. Die diesbezüglich getroffenen Entscheidungen sind augenscheinlich. Lärm-Eskapaden, wie beim Track »Rolling Stone« aus dem Jahr 2017, erlaubt sich die Band auf dem aktuellen Album nicht. Jeder Ton des unter 40 Minuten langen Werkes sitzt. Es scheint, als sei dieses Mal noch konziser gearbeitet, noch kompromissloser geformt und zugespitzt und noch klarer strukturiert worden. Das Album zeigt sich insgesamt als dunkelbuntes Endergebnis eines langen Schaffens- und Präzisierungsprojekts. Dabei gelingt an allen Ecken und Enden Erstaunliches. Der Opener »One Last Dance« entwickelt, auch dank Gitarren- und Soundscape-Unterstützung von Christian Fennesz, einen unglaublichen Sog. Die relative Einfachheit des Tracks macht Raum für feine Details und lässt songimmanent stetige Veränderung fast unbemerkt eintreten. Wer unter den herrlichen Melodiebögen von Mastermind und Sänger »Garm«, also der Popoberfläche des Songs, tiefer gräbt, erlebt also wahre Klangwunder. Highlights des Albums sind etwa der balladeske Track »A Thousand Cuts«, der nicht vor Pathos zurückschreckt und doch, einer kristallklaren Produktion und der Musikalität der Band sei Dank, Bodenhaftung bewahrt. Der Refrain von »Apocalypse 1993« erweist sich zudem als anspruchsvoller Ohrwurm, der auch nach Tagen Dauerpräsenz nicht zu nerven beginnt. Damit ist auch schon das innerste Wesen des Albums beschrieben: Eine Vielschichtigkeit, die einen länger beim Hören und beim Staunen hält, als es zuerst möglich erscheint. Die acht Tracks des Albums entfalten jeweils ihre gänzlich eigene Magie, die klanglichen Feinheiten lassen sich über Wochen heraushören und genießen. Zugleich fließt das Album als Ganzes und lässt sich ohne Skip-Tracks immer und immer wieder durchhören. Dann erschließt sich zuletzt auch, Stück für Stück, die Gesamtatmosphäre des Werkes. Sie ist, trotz aller Tanzbarkeit und Eingängigkeit der Musik, so dunkel wie selten in der Ulver-Karriere. Vor allem auf textlicher Ebene gibt es offenbar kaum noch Hoffnung, dass es mit der Menschheit demnächst wieder bergauf geht. Womöglich ist »Flowers of Evil« damit auch der Soundtrack zum bevorstehenden Weltuntergang, zumindest aber ein wohlklingender Abgesang auf eine dem Untergang geweihte Gesellschaft. Wer es lieber eine Nummer kleiner mag, darf »Flowers of Evil« auch gerne als perfekte Platte für den Übergang des Sommers in den Herbst rezipieren.
Ulver
»Flowers of Evil«
House of Mythology/Al!ve
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