Es ist ein Roman wie ein Konzeptalbum. Dreizehn Episoden, eingeteilt in eine A- und B-Seite, erzählen eine Geschichte der Musik, der Vergänglichkeit und des Erwachsenwerdens. Dreizehn verschiedene Stimmen, dreizehn verschiedene Perspektiven, Zeiten und Personen. Von den letzten Tagen der Hippies über die Punk- und No-Wave-Szene bis hin zu einem hoch technologisierten Abbild New Yorks nach der Jahrtausendwende, in dem sich SmartPads gegenseitig orten und Babies über Musikdownloads die Charts bestimmen.
Dennoch schafft Jennifer Egan, in ihrem Pulitzerpreis-gekrönten Roman »Der größere Teil der Welt« jede einzelne dieser Geschichten zu einem großen, stimmigen Ganzen zu vereinen. Da ist etwa Bennie Salazaar, in seiner Jugend mäßig talentierter Bassist, heute Leiter eines Plattenlabels mit dem passenden Namen »Sow’s Ear Records«. »Aber Bennie wusste, was er der Welt da servierte, war Scheiße. Zu steril, zu clean. Es lag an der Präzision, der Perfektion; an der Digitalisierung, die jegliches Leben aus allem saugte, das durch ihre mikroskopisch feinen Maschen gequetscht wurde. Film, Fotografie, Musik: tot. Ein ästhetischer Holocaust! So was würde Bennie natürlich nie laut sagen.« Irgendwann tut er es dann doch, serviert seinem Vorstand den Kuhmist, den er täglich zu verkaufen glaubt, und wird prompt aus seinem eigenen Label geworfen.
Musik: tot
Und da ist seine Assistentin Sasha, Kleptomanin, die ihre Trophäen daheim auf einem Tisch anhäuft. Sie hat eine Jugend voller Drogen, mehreren Selbstmordversuchen und einer Weltreise hinter sich. Wir finden sie – jeweils aus anderen Augen – auch in Neapel, in einer engen Beziehung zu ihrem Jugendfreund, auf einem Date und später als Hausfrau und Mutter. Dabei zeichnet Egan vor allem Porträts einer fliehenden Jugend, die plötzlich kaum mehr Bedeutung hat. Porträts auch des Scheiterns – Bennies Jugendfreundin kämpft heute noch mit den Folgen ihrer Heroinabhängigkeit, ein Punk-Star plant seinen Selbstmord auf der Bühne – der Gitarrist Scotty von Bennies Jugendband The Flaming Dildos ringt mit seiner Scheidung, Depressionen und Zahnlücken. Bennie selbst verliert nach seiner Scheidung immer mehr den Kontakt zu seinem Sohn, Goldflocken sollen gegen die nachlassende Potenz helfen.
Am Ende gelingt ihm jedoch mit Hilfe des korrupten Musiksystems und einer gekauften Mundpropaganda- Kampagne noch einmal ein Erfolg – er verhilft seinem ehemaligen Freund Scotty samt »unverfälschten« Tönen zum Durchbruch. Die Babies lieben es. Dazwischen entführt Egan kritisch, aber nie ohne einen gewissen Witz in die PR-Kampagne für einen Diktator oder in eine Safariszene in Afrika. Episodendetail am Rande: Die Tochter der Diktatoren-PR-Frau wird später Bennies Kampagne leiten.
Die Zeit macht jeden fertig
Nicht nur in ihren inhaltlichen Verflechtungen, die ein wenig an das Kevin-Bacon-Prinzip erinnern (jeder kennt jeden in nicht mehr als sechs Schritten), auch formal zieht Egan alle Register. Jede Episode erhält ihre eigene Sprache und eigene Zeit. Die Autorin wechselt etwa zwischen reportageartigem Format, einer fast-wissenschaftlichen Abhandlung, dem Ich- Tagebuch-Stil und einem Kapitel, das durchgehend aus der Du-Perspektive geschrieben ist. Höhepunkt dieser formalen Experimente ist das Tagebuch der kleinen Tochter der Kleptomanin, Sasha – bestehend aus Powerpoint-Folien mit einem Vortrag über die Wichtigkeit von Pausen in der Musik.
Das funktioniert überraschend gut, fesselt und lässt die Leserin zwar gekonnt nicht mit offenen Enden, aber mit dem Wunsch zurück, die Lücken in den Geschichten der einzelnen Charaktere aufzufüllen. Stets werden die Episoden auch von Musik begleitet. Für Bennie sind es Pearl Jam, die Stooges oder die Dead Kennedys, Black Flag und Patti Smith, in Afrika die Trommeln der Samburu-Krieger. Warum allerdings der englische Originaltitel »A Visit from the Goon Squad« und die passende Erklärung des ehemaligen Punk-Stars »Time’s a goon, right?« – wörtlich übersetzt »Die Zeit ist ein Schläger« – zu »Der größere Teil der Welt« wird und damit das beherrschende Thema des Buches unter den Tisch fällt, ist fragwürdig.