Die Musiktheatertage Wien zeigen heuer im neunten Jahr neun Produktionen, und errichten ein temporäres künstlerisches Barrierenabbaugebiet. Dieses umspannt vom 17. bis 27. September 2025 Orte wie das Odeon Theater, den Reaktor, das Theater am Werk, die Zacherlfabrik, das WEST in der alten WU, das MuTh, den Gedenkwald Aspern sowie als Festivalzentrale das WUK. Das Eröffnungsstück »The Rise« kommt heuer von Eva Reiter und in einem kurzen Essay liefert sie Reflexionen über Zugänglichkeiten im Kontext dieses Stückes, die auch auf andere Stücke des Festivals übertragen werden können: »Die Basis dieses Zuhörens ist das Anerkennen differenter Perspektiven, Empfindungen, Wissensformen, Selbstverständnisse und Materialitäten, zwischen denen vermittelt wird.« Sie beendet den Text mit folgender Feststellung: »Gebärdensprache nicht zu lesen oder Klang nicht zu hören, stellt dabei keinen Mangel der Kommunikationsfähigkeit dar, der kompensiert werden muss, sondern versinnbildlicht das natürliche Maß der Bedeutungsveränderung und des Sinn-Abriebs – ein Moment von großem kreativem Potenzial, der mit dem Übersetzungsprozess einhergeht.« skug hat sich mit den beiden Festivalleitern Thomas Cornelius Desi und Georg Steker getroffen, um über die Verschiebearbeiten und Bruchstücke im sozial-kulturellen und künstlerisch-musiktheatralen Habitat zu sprechen.
skug: Ich würde gerne mit dem Masochismus beginnen. In deinem Stück »Venus im Pelz« gehst du an den Anfang des Masochismus …
Thomas Desi: Ich habe vor dreißig Jahren eine Oper inszeniert, für die zwei deutsche Autoren das Libretto geschrieben haben. Die Oper hieß »Die Venus von Kramskoj« und war eine ironische Überschreibung des Textes von Leopold von Sacher-Masoch. Bei der heurigen Arbeit daran bin ich wieder meinem Selbst vor dreißig Jahren und einer gewissen Neunzigerjahre-Ironie begegnet. Die Form der Ironie ist mittlerweile weniger salopp geworden, auch das Geschlechterverhältnis. Abgesehen davon, dass es ein experimenteller Text war, fand ich mittlerweile, dass die gesungenen Thematiken nicht mehr so gut nachvollziehbar sind. Deshalb habe ich mir noch einmal das Original angesehen und »Venus im Pelz« ist eigentlich das einzige Buch von Sacher-Masoch, das man heute noch im regulären Handel bekommen kann. Aber er war ein bedeutender Schriftsteller für die österreichische Szene damals, er hat auch viel über das jüdische Leben in Galizien geschrieben. Und so kam ich auf das Gedankenspiel ‒ da Johann Strauss und Sacher-Masoch zur selben Zeit in Paris reüssiert haben: Sie könnten sich ja in einem schönen Salon begegnet sein und Sacher-Masoch könnte Strauss sein Buch als Libretto vorschlagen haben. Diese Idee hat für mich damit zu tun, dass die sogenannte Belle Époque eine ganz dunkle Kehrseite hatte. Dieser schmuddelige Bereich, in dem auch Sexualität, Devianzen und Pathologien ineinander übergegangen sind. Denken wir an das Hôpital de la Salpêtrière, an dem auch Sigmund Freud wirkte. Damals waren dort tausende psychische und mentale Problemfälle kaserniert und ausgestellt. Die Wiener Schule unter Richard von Krafft-Ebing, der den Begriff des Masochismus geprägt hat, ist davon ausgegangen, dass es sich um eine Pathologie handelt. Sein Atlas der Pathologien damals war ein Reißer (Anm.: Sein wohl bekanntestes Werk »Psychopathia sexualis« wurde zum Standardlehrbuch der Sexualpathologie im 19. Jahrhunderts) – auch weil die Leute da die Fälle nachlesen konnten. Heute wird das nicht mehr als Pathologie, sondern als Privatsache gesehen. Es geht heute mehr um den Leidensdruck, wie sehr das Privatleben einer Person dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird, nicht mehr kontrollierbar ist und therapeutische Hilfe benötigt wird. Sexuelle Praktiken unterliegen technologischen Fortschritten sowie ja auch die Porno-Industrie das Ergebnis eines technologischen Fortschritts ist. Es ist erstaunlich, wie sich das auf die Beziehungsnahme und das Möglichkeitsfeld des Sich-Auslebens des Menschen auswirkt. Um diese Thematik abzuschließen: Ich bin bei meinem neuen Stück beim Originaltext geblieben und ein wesentlicher Aspekt ist nun, dass nichts gezeigt wird, sondern dabei ein Hörstück, in dem man herumgehen kann, herausgekommen ist. Es wird keine öffentlichen Auspeitschungen geben oder einen Crashkurs in sadomasochistischen Praktiken: Es soll ja keine Erotikmesse abgehalten werden. Vielleicht gäbe es mehr Kartennachfrage, wenn es in dieser Hinsicht einschlägiger wäre, aber das sehe ich nicht als meine Aufgabe (lacht).

Möchtest du noch etwas zu dem Doppelabend in der Zacherlfabrik mit dem Titel »Splice« sagen?
Thomas Desi: Das erste Stück »Elektronische Archetypen« ist eine Komposition von Gilbert Handler für ein Lautsprecher-Orchester. Er bewegt sich in dieser Rauminstallation, um die Stimme als atmosphärischen Archetypus hörbar zu machen. Im zweiten Teil gibt es nach der One-Man-Show von Gilbert Handler sozusagen eine One-Woman-Show mit der Sopranistin Manami Okazaki, die in dem Stück »Nocturnes« zwölf verschiedene Personen darstellt, unter anderem auch zwei Männer. Der Gitarrist Kenji Herbert hat zu diesem Stück einen Soundtrack eingespielt, den wir gemeinsam erarbeitet haben. In meinem bescheidenen Wissen über den Sachverhalt der multiplen Persönlichkeit hat es eine Wandlung der Begrifflichkeiten im Laufe der Geschichte gegeben: Unter der Rubrik der Hysterie, damals im 19. Jahrhundert typisch weiblich zugeordnet, bekannt geworden, später als multiple Persönlichkeit bezeichnet, heißt dieses Phänomen jetzt wieder Dissoziative Identitätsstörung. Diese Wandlung der Begrifflichkeiten weist darauf hin, dass man nicht genau weiß, was da eigentlich genau in der Person passiert und was die Ursachen dafür sind. Ich möchte in meinem Stück gar keine Untersuchung über den medizinisch-pathologischen Problemfall liefern, sondern aufzeigen, dass Schauspieler*innen und Sänger*innen solche medusenartigen Wesen sind, die ihre Charaktere ständig ändern müssen. Eine befreundete ehemalige Opernsängerin hat es so ausgedrückt: »Which bitch, which saint?« Sie hatte die Oper mit der Zeit satt, denn sie konnte sich im Opernkontext genau zwischen diesen beiden Frauenrollen entscheiden. Sie ist dann ins neue Musiktheater gewechselt und hat von einer Opernkarriere Abstand genommen.
Ihr widmet euch im Rahmen des heurigen Festivals unter anderem Aspekten wie den unmerklichen Verschiebungen sowie den subtilen Brüchen in sozialen wie kulturellen Normen. Darüber würde ich gerne mehr erfahren.
Georg Steker: In den verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens gibt es Brüche und man bemerkt, dass man entlang dieser Brüche relativ schnell in Parallelsituationen kommen könnte. Durch das Verschieben eines Faktors ändert sich spürbar mehr als dieser eine Parameter. Ich meine damit aber nicht Paradigmenwechsel in irgendeiner Art, sondern wir beschäftigen uns mit den Phänomenen im feineren Bereich. Denn vielleicht kann sich auch allein durch die Setzung einer Behauptung schon etwas im Mikrobereich verschieben. Es werden diverse gesellschaftliche Aspekte angesprochen: Konsumverhalten, Geschlechterrollen oder Inklusion. Das Eröffnungsstück »The Rise« zum Beispiel beschäftigt sich mit dem Mitdenken von anderen auditiven Wahrnehmungen. Oder nehmen wir das Stück »Pulver« von Clara Frühstück mit ihrer Befragung von Themen wie Überkonsum und dem Zuviel in unserer Gesellschaft. Ich fand es interessant, dass die Künstler*innen, die Stücke entwickeln und sich mit uns verabreden, ganz genau auf diese kleinen Risse schauen und hineinfahren. Künstler*innen haben die Gabe, sich auf diese scheinbaren Dysbalancen einzulassen, um durch das Hinein-Zoomen etwas sichtbar zu machen.
Thomas Desi: Ich habe ja schon zu Beginn angesprochen, dass mein Stück »Die Venus von Kramskoj« – entstanden vor dreißig Jahren – für mich heute so nicht machbar wäre. Da haben sich die Sprache, und auch der Humor und das Geschlechterrollenverständnis, einfach stark verändert. Eine klassische, klischeehafte Rollenverteilung, die damals – in ironisierter Form – so virulent war, das geht heute so in unserem Bereich nicht mehr.
Georg Steker: Vor dreißig Jahren hätte ein Stück über Massenkonsum natürlich auch anders ausgesehen. Heute ist die Verzweiflung über scheinbar unlösbare Probleme größer. Bei der Produktion »The Resilience of Sisyphos« – ein immersives, interaktives Musiktheaterstück im Escape-Room-Format mit einer Dauer von über vier Stunden – haben sich Aleksandra Bajde, Dominik Förtsch, Samuel Gryllus, Wen Liu und Conny Zenk auch sozialpolitische Beratung von Dr. Alexander Behr geholt. Er war zum Beispiel auch viel in Kontakt mit Marlene Engelhorn bezüglich ihrer Verteilaktion.
Thomas Desi: Ich träume übrigens auch noch davon, ein Vierstundenstück zu machen. Man könnte die »Kollapsologie I bis IV« an einem Abend zeigen? Es ist ja interessant, die Dauer von Musiktheaterstücken ist auch ziemlich eingeschliffen: Die Normaldauer beträgt eher eine Stunde. Aber nochmal zurück zu den Brüchen und Verschiebungen, ich bin zwar vom Charakter her ein Skeptiker und ein Fortschrittsproblematiker, aber ich finde diese Verschiebungen und Brüche nicht immer per se negativ. Sehr wohl sind diese Brüche und Loslösungen in der eigenen Biografie oft notwendig. Man muss sich auch bewusst und dezidiert gegen etwas stellen und einen Bruch herbeiführen, um die Verbesserung einer Situation zu erreichen. Das ist natürlich nicht jedermanns Sache. Ich sehe die Sprache als unser Haus des Denkens und durch das Verändern dieser Sprache wird mit dem Nicht-darauf-Achten und Übergehen von Dingen wie Geschlechter-Gleichwertigkeit, Gehörlosigkeit oder Barrierefreiheit gebrochen. An diese Verschiebungen müssen wir uns dann gewöhnen. Und ich finde diese Thema auch von der organischen Seite her betrachtet interessant. Der Körper als solcher ist sehr tolerant. Es passiert äußerlich betrachtet im Realleben oft sehr lange nichts, obwohl im Körper schon Veränderungen vor sich gehen. Die AI kann mittlerweile schon viel besser als ein menschlicher Arzt diagnostizieren und das Problem daraus ist die übernegative Beurteilung der Gesundheit. Dieses Voraussehen in die Zukunft, das AI-Erkennen von Verschiebungen und das Feststellen von unmerklichen Veränderungen, das ist schon etwas unheimlich. Auch in unserem Programm wird diese utopische Drift thematisiert.

Im Rahmen des Festivals gibt es auch das Vermittlungsformat Hörblicke. Talks, Workshops – auch für Kinder – und die Möglichkeit des künstlerischen Austauschs werden angeboten. Könnt ihr kurz etwas zu den beiden Lectures im Projektraum im WUK – der ja generell als Begegnungsraum der heurigen MTTW fungiert – erzählen?
Georg Steker: Die Lecture zum Thema »Die Wiener Musiktheaterszene. Ein Überblick« werde ich halten. Wir haben uns im Rahmen des Vermittlungsprogramms gedacht, dass das Festival als Handreichung für jüngere Kolleg*innen auch eine Art Beratungs- und Begegnungsraum darstellen kann. In meiner Lecture werden die verschiedenen aktuellen Player der Szene genannt und auch, wofür sie stehen und wie es um ihre Entwicklungsmöglichkeiten steht. Zum Teil koproduzieren wir ja auch mit Gruppen, die in Wien arbeiten. Wieso wirkte die Musiktheaterszene hier scheinbar so rigide und unbeweglich in den letzten fünfzehn Jahren? Ich versuche dann Vergleiche zum Beispiel mit der Berliner Musiktheaterszene herzustellen.
Thomas Desi: Ich habe 2008 gemeinsam mit Eric Salzman ein Buch über neues Musiktheater geschrieben (Anm.: »The New Music Theater: Seeing the Voice, Hearing the Body«, Oxford University Press). Mich beschäftigt dieses Format seit 1988 und es stand immer im Schatten der großen Oper, die ja besucher*innentechnisch und finanziell doch sehr robust dasteht. Das Musiktheater konnte sich nie als Musikformat in den Institutionen etablieren – bis nach den Zweitausenderjahren aus einem anderen Bereich und anderen Richtungen, wie der Performance-Kunst und oft der bildenden Kunst, eine dramaturgische Akzeptanz geschaffen wurde für improvisierte, narrativfreie Erarbeitungsweisen, die auch die Rolle der Komponist*innen stark relativiert hat. Der Entstehungsprozess ist nun nicht mehr a priori eine Kompositionsmusikform, die im Schatten der Oper steht, sondern hat sich im Sinne einer Diversifizierung durch Festivals etabliert. Und Musiktheater will auch nicht mehr mit einem Kammeropernprogramm konkurrenzieren. Vieles entsteht erst im Probenprozess. Bestimmte vorgegebene Produktionsprozess-Reihenfolgen werden aufgebrochen: Libretto, Komposition, Inszenierung, Aufführung.
Georg Steker: Das Musiktheater ist in dieser Hinsicht freier. Wer ist nun der*die Autor*in in den neuen Stücken? Im seriellen Prozess gab es andere Abläufe wie im parallelen Arbeitsprozess. Es verschiebt sich die Autor*innenschaft.
Könnt ihr die Idee des Club Mosaik, der an mehreren Abenden des Festivals stattfinden wird, erklären?
Georg Steker: Am Ende des Abends soll es eine Möglichkeit geben, um sich zu treffen. Wir können das zwar nicht über alle Festivaltage hindurch anbieten, aber punktuell haben wir für einen Ort die Schlüsselherrschaft. Wir nutzen den Projektraum im WUK als Festivalzentrum: für die Workshops, auch für die künstler*inneninterne Morning Practice, eine Komfortzone mit Frühstück für die Begegnung zwischen den Künstler*innen des Festivals. Und am Abend hatten wir auch Lust ‒ auch als Pull-Faktor für diese Club-Mosaik-Abende ‒, kuratierte künstlerische Momente zu zeigen. Es gibt performative musikalische Darbietungen, die eine halbe Stunde dauern werden. Ursprünglich haben wir diese Abende sehr lose gestaltet, jetzt haben wir uns dafür entschieden, eine halbe Stunde einen Aufführungsraum und danach einen Konversationsraum anzubieten.
Thomas Desi: Ich bin ja ein Freund von Assonanz. Gestern habe ich meine Kinder beim gemeinsamen Abendessenkochen mit Yves Klein konfrontiert. Wir haben die Symphonie »Montone-Silence« gehört. Das ist ein D-Dur Akkord, der von Orchestermusiker*innen ganz ernst gespielt wurde, damit sich die Frauen in blauer Farbe auf der Leinwand wälzen können. Wir haben nach unter zehn Minuten abdrehen müssen.
Georg Steker: Hat sich da gar nichts entwickelt?
Thomas Desi: Leider gar nichts (lacht). Aber es gibt sogar eine Partiturseite von Yves Klein dafür.
Georg Steker: Kriegt er auch Autorenrechte dafür (lacht)?

Abschließend: Was steht bei dem heurigen Austrian Musiktheater Day ‒ in Kooperation mit der Initiative Austrian Music Export von mica – music austria und dem Österreichischen Musikfonds ‒ auf dem Programm?
Thomas Desi: Beim heurigen AMD steht die Frage der Barrierefreiheit ‒ auch in der Produktion ‒ im Mittelpunkt. Auch Begriffe wie Inklusion und Teilhabe sind zentral. Wen betreffen sie? Auch die schaffenden Künstler*innen oder die Darstellenden auf der Bühne? Das Thema der Gehörlosigkeit steht im Fokus, der großartige Helmut Oehring ‒ selber Kind zweier gehörloser Eltern, der als Komponist Aufmerksamkeit für die Gehörlosengemeinschaft schafft ‒ hat die Gehörlosensprache und die Gebärdensprache in seine Kompositionen integriert. Er wird auch im Rahmen des Club Mosaik einen Abend gestalten.
Georg Steker: Diese Fachkonferenz dient auch dazu, die Community der Musiktheaterszene zu stärken. Wir bieten einen Rahmen dafür, sehen diese Tage auch als Netzwerktreffen. Es gehen sehr wenige österreichische Produktionen als Gastspiele ins Ausland. Eine historische strukturelle Schwere, die vielen Musiktheaterstücken der freien Szene anhaftet, verunmöglicht eine internationale Außenwirkung. Deshalb haben wir ja auch vor zehn Jahren internationale Festivalleiter*innen nach Wien eingeladen, um Brücken in beide Richtungen zu bauen.
Thomas Desi: Wir versuchen, einem gewissen Provinzialismus entgegenzuwirken. Die deutsche Sprache ist da ein Hemmschuh. Viele Produktionen entstehen daher auf Englisch und das finde ich als Sprachfetischist ein bisschen traurig, da dadurch auch die sprachliche Diversität vernachlässigt wird. Und Übersetzungen in Übertiteln zu lesen, finde ich nur halblustig. Das Performative ist da vielleicht auch eine Ausflucht aus der Sprachbarriere. Meine Stücke »Venus im Pelz« und »Nocturnes« sind sehr textlastig, das macht das Fehlen an Texten im Rahmen des Festivals wieder gut (lacht).
Georg Steker: Ja, zum Beispiel der Text von Ferdinand Schmalz zu dem Stück »Pulver« ‒ er ist keine A4-Seite lang. Es gibt heuer viele textarme Stücke.
Link: https://mttw.at/











