Maxim Seloujanov © Frank Tjaben
Maxim Seloujanov © Frank Tjaben

Somatische Vorgänge ähnlicher Natur

Maxim Seloujanov ist nicht nur ein international angesehener Komponist, sondern auch ein begabter bildender Künstler. Er hat sich mit uns getroffen, um über seine Kunst, ihre Ausdrucksformen und die dahinterstehenden Intentionen zu sprechen.

Der österreichisch-russische Komponist Maxim Seloujanov ist seit mittlerweile 30 Jahren in Österreich künstlerisch aktiv, mit zwischenzeitlichen Aufenthalten in Italien und Deutschland. Sein Schaffen, das sich sowohl auf die russische Kultur als auch auf westliche Avantgarden bezieht, umfasst hunderte Musikwerke verschiedener Gattungen, aber auch zahlreiche visuelle und multimediale Arbeiten. Der Name Seloujanov bedeutet so viel wie »Wesen aus dem Wald«. skug traf den Künstler in einer Wohnung mit Blick auf knorrige Baumkronen, um über seinen letzten Award für ein Musikvideo über Umwelttransformation, die Wurzeln seiner Musik und seinen Zweig des musikpolitischen Engagements für die Anerkennung des kompositorischen Berufs und die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Kunstmusik-Komponist*innen zu sprechen.

skug: Mit dem Musikvideo »Infiorata« hast du letztes Jahr in Regensburg den JukeBoxx NewMusic Award, einen Preis der Christoph und Stephan Kaske Stiftung und der »nmz« (»neue musik zeitung«) gewonnen. Ein Auszug aus der Jurybegründung lautet: »Seloujanovs Musik für die Geigerin Weiping Lin und den Cellisten Arne Kircher ist ähnlich markant wie seine Bildsprache. Naives trifft auf Komplexes und wird in der technischen Realisierung durch Jüri Sorokin auf den Moment genau mit der Bildhandlung synchronisiert.« Kannst du dieses Projekt, du nennst deine Videos auch Videopoesis, noch einmal kurz erklären?
Maxim Seloujanov: »Infiorata« bedeutet so viel wie Blumenteppich. In Italien besteht die Tradition, zum Fronleichnamsfest die Straßen komplett in kirchlichen Motiven aus Blüten auszulegen. Solche Straßenfeste habe ich öfters in Genzano, in der Region Castelli Romani, besucht. Diese Technik, die Legung eines Blumenteppichs, hat für mich Parallelismen mit dem Vorgang des Notensetzens. Erst aus der Entfernung entsteht das ganze Bild. Das videopoetische Werk »Infiorata widmet sich dem Thema Umwelttransformation, Entität und Gender in der Musik. Seinem Titel nach stellt es eine abstrakte Anspielung auf die Konzeption des katholischen Sakramentes als Wechselbeziehung zwischen den erkennbaren und nicht erkennbaren Realitäten in Anlehnung an die Fragenstellung der Quantenphysik dar. Durch die alltäglichen menschlichen Versuche, die Umwelt zu erneuern, werden Instabilität und Unvollkommenheit – durch unsere Betrachtung reflektiert – in sie eingebracht. Dabei entstehen Welten, die durch die Position des Betrachters voneinander abgegrenzt werden. Eine mittelbare Beobachtung der Umwelt – durch eine Linse, im weitesten Sinne dieses Wortes – schafft eine Relation oder sogar ein Äquivalent zwischen einer Pseudorealität und einer Pseudovirtualität. Jede Erneuerung oder auch eine Pseudoerneuerung schafft eine Umweltentropie. Die aktive Werkebene soll unsere Umweltkollusion reflektieren, die eine Art permanenter Annektierung der Naturräume ist, die uns nicht gehören. Nach Werner Heisenberg sollen wir allerdings beachten, dass die Umwelt, die wir beobachten und vervollkommnen wollen, nicht die eigentliche Umwelt ist, sondern eine solche, die durch unsere Fragestellung entsteht. Die Frage, ob eine solche Absicht gleich eine Störung des Gleichgewichtes bedeutet, wird ausschließlich durch die Position des Betrachters bestimmt. Was außer seiner Betrachtung besteht, bleibt dabei verborgen.

In dem Musikvideo »Infiorata« wurden auch Zeichnungen von dir verwendet. Leiten sich deine Zeichnungen von grafischen Notationen ab?
Eher umgekehrt. Meine Zeichnungen kann man aber wohl als grafische Musikpartituren erfassen und ohne Probleme in grafische Musikwerke umwandeln. Zeichnen und Musizieren sind somatische Vorgänge ähnlicher Natur und deswegen analog zueinander. Generell bin ich auch sehr bildbezogen, ich sehe Musik mehr, als ich sie höre. Musik wird mit dem Körper gemacht, jedes Instrument beruht auf einem Körpereinsatz. Und jede Bewegung hat ihre Reflexion in der Musik. Kinästhetische Wahrnehmung ist eine primäre Wahrnehmung und für klassisch ausgebildete Musiker sowieso. Das Visuelle ist sehr wichtig für die Gestaltung einer musikalischen Form.

»Apotropäum_Nordisches Lied« © Maxim Seloujanov

Dein Werk scheint so umfangreich, dass selbst ein kursorischer Überblick zu ausufernd sein könnte und ich gerne die Frage so stellen möchte: Was hast du bisher ausgelassen?
Ich habe zum Beispiel noch nie Musik zu einem Film geschrieben. Würde ein Regisseur ein Werk für einen Film bestellen, dann wäre ich bereit, dafür zu arbeiten. Ich würde auch gerne Ballettmusik schreiben. Diese Gattung würde ich mit interaktiven elektronischen Mitteln kombinieren, wenn ich es selbst inszenieren könnte. Weiters würde ich gerne noch einen Film drehen und eine Oper inszenieren.

»Apotropäum_Reiterstück« © Maxim Seloujanov

Welche Projekte beschäftigen dich dieses Jahr?
Ich werde mich weiter mit Musikvideos beschäftigen; an Musikformen, die mit elektronisch-visuellen Mitteln arbeiten. Für die Eröffnung der neuen Konzerthalle in Siegburg erarbeite ich für die Pianistin Lisa Smirnova und ihr New Classic Ensemble Wien zum »1. Klavierkonzert« von Beethoven eine interaktive multimediale Kadenz. Die Vorbereitungsarbeit für dieses Projekt wurde vom österreichischen Bundeskanzleramt unterstützt. Im gleichen Konzert wird ein weiteres neues Werk von mir, »Hase auf dem Mond« für Klavier, Streichquintett und Video uraufgeführt. Die Arbeit an diesem Werk wurde von der SKE gefördert. Auf meinem aktuellen Arbeitsprogramm stehen sonst noch die Entwicklung eines interaktiven musiktheatralischen Werkes, ein Orchesterwerk und eine Video-Oper.

»Blaues Tal« © Maxim Seloujanov

Darf ich dich nach deinen Hörgewohnheiten fragen? Welche Komponist*innen hörst du gerne, haben dich beeinflusst?
Vor allem Alte Musik, Beethoven, Bach oder Barockmusik; Musik, die für mich keine Fragen mehr aufwirft, außer interpretatorische. Da ich als Interpret jetzt gar nicht mehr tätig bin, kann ich da ebenfalls abschalten. Es gibt ein Zitat, das Schostakowitsch zugeschrieben wird, der gesagt haben soll: »In der Musikgeschichte gab es eigentlich nur zwei Komponisten: Bach und Beethoven.« Das klingt im ersten Moment natürlich komisch, aber wenn man sich genauer ansieht, was diese beiden gemacht haben, dann erkennt man: Nach Beethoven wurde keine Sinfonie mehr geschrieben, sondern sinfonische Musik. Und nach Bach wurde kein Musiksystem mehr postuliert, das länger lebte als nur eine Komponistengeneration. Wir wissen ja, an wen Bach sein Werk adressiert hat: an Gott. Und Beethoven hat seine Musik für die kommenden Generationen erschaffen. Die Romantiker haben für den Salon komponiert. Spätere Generationen – heute – schreiben für den Musikbetrieb. Was hat Bach geleistet? Er hat ein musikalisches Denksystem aufgestellt. Beethoven hat diesem System Form gegeben. Das Bach’sche System mit Beethoven’scher Form hat man bis Anfang des 20. Jahrhunderts ausgereizt. Liszt versuchte, die Spieltechnik zu einem konstruktiven Element zu machen, und blieb somit in seinem Instrument befangen; und Arnold Schönberg schränkte sich auf eine Klavieroktave ein.

»Gelbes Tal« © Maxim Seloujanov

Du bist seit 2018 Obmann des Vereins Orchesterwelt, der 2011 von Walter Baco gegründet wurde. Ziel ist die Vermittlung zwischen Komponist*innen, Interpret*innen und kulturpolitischen Institutionen.
Ja, das ist unsere Aufgabe und jetzt mit der neuen Regierung eine Herausforderung. Im Rahmen des Vereins Orchesterwelt habe ich 2018 einen Komponisten-Preis initiiert. Weiters gibt es die Initiative »Stars von Morgen im Ersten Bezirk«. Die Interpreten, die im Rahmen dieses Projekts auftreten, Studierende der mdw mit Konzertfach Klavier, werden die Werke lebender österreichischer Komponisten ins Konzertprogramm und somit ins internationale Repertoire integrieren und zur Aufführungen bringen. Ich finde es wichtig, dass die Künstler und Komponisten selbst und nicht die Kuratoren oder die Kulturpolitik darüber entscheiden, welche Werke geschrieben oder gespielt werden. Ich bin zum Beispiel auch dafür, dass ein Rechtsanspruch auf eine Uraufführung eingeführt wird, um der bestehenden Repertoirepolitik der Veranstalter entgegenwirken zu können. Ich bin auch für die Gründung einer Komponistenkammer, die die Interessen von Komponisten professionell in jeder Angelegenheit und auf jeder Ebene per Gesetz vertritt. Bei der AKM werden unsere Interessen trotz des Verwertungsgesellschaftsgesetzes nicht ausreichend vertreten. Der Österreichische Komponistenbund unter der aktuellen Führung vertritt mehr die Interessen der AKM als die der österreichischen Komponistenschaft. Das bestehende Bundeskunstförderungssystem verhindert mehr als es fördert. Komponisten üben ihren Beruf in einem gesetz-und rechtsfreien Raum aus. In der Wiener Stadtverfassung kommen solche Begriffe wie Musik, Kunst oder Kultur gar nicht vor. Um fair bezahlen zu können, muss man wissen, was bezahlt wird. Die dafür nötigen Statistiken wurden bis jetzt nicht angesammelt. Wie viele Stunden arbeitet ein Komponist im Jahr? Wie viele Arbeitsstunden braucht ein Komponist für eine Minute Musik? Liegen solche Daten vor? Nein, solche Daten hat man nie wirklich gesammelt.

»Ökobäsle_Fuga« © Maxim Seloujanov

Komponierst du mittlerweile am Computer?
Ich komponiere nicht am Computer, sondern schreibe meine Musik mit der Hilfe eines Computers. Ich bin ziemlich spät, etwa 2014, vom Handschreiben auf das Notensetzen am Computer umgestiegen. Ich musste damals innerhalb einer kurzen Zeit das Aufführungsmaterial für ein vierzigminutiges Werk für großes Orchester und Chor vorbereiten. Das Arbeiten am Computer war die einzige Möglichkeit dafür. Bis dahin habe ich es abgelehnt, ich mochte das feine Arbeiten mit den Händen. Dafür zeichne ich jetzt mehr Bilder als früher. Das Notensetzen mit dem Computer beeinflusst natürlich das Denken, es ist einfach ein anderes Verfahren, aber auch nicht immer eine Zeitersparnis. Ich hatte Probleme mit dem Klavierspielen, weil ich viel mit der Hand geschrieben und einen Schreibkrampf bekommen habe. Aber das Bedienen einer Computer-Maus ist noch schädigender für die Musiker. Für das Klavierspiel ist es fatal.

»Ökobäsle_Gewitter« © Maxim Seloujanov

Zum Schluss noch eine allgemeine Frage, wie transformieren deiner Meinung nach Maschinen das Musizieren?
Jetzt verändern mehr oder weniger indirekt Maschinen unsere musikalische Denk- und Formwahrnehmungsweisen. Es gibt meines Wissens aber immer noch kein Instrument, das menschliche Gefühle überträgt und wahrnimmt; kein Instrument, das Gefühle verpacken und dann an die Zuhörer disponieren kann. Um allerdings bei einem Auditorium mit deiner Musik ein spezielles Gefühl auszulösen, dafür benötigt es ein professionelles Handwerk. Man muss verstehen, wie die Psychologie eines Publikums funktioniert. Dieses Wissen ist für Komponisten unbedingt notwendig, um künstlerisch professionell arbeiten zu können, da der Komponist nicht direkt mit dem Publikum arbeitet. Dazwischen steht noch eine andere Psychologie, die Psychologie des Interpreten. Diese Fragestellung ist nicht einfach: Wie kann der Interpret ein Stück in meinem Sinne weitergeben?

Links: http://seloujanov.net/

Home / Musik / Artikel

Text
Michael Franz Woels

Veröffentlichung
12.02.2020

Schlagwörter

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