Im anglo-amerikanischen Raum war die Diskussion um »Retromania« im Internet bereits im Herbst des Vorjahres voll im Gange. Als sie im Winter darauf auch im deutschsprachigen Raum begann, war sie praktisch bereits abgefrühstückt. Aber erst mal zu vorvorgestern: Mitte der Neunziger Jahre traf ich den renommierten Pop-Theoretiker Simon Reynolds in einem Wiener Kaffeehaus zu einem Gespräch. Als Kurator des Symposiums »Pop/Rock-Utopia« (im Rahmen der Musikmesse »W.I.E.N Sounds Fair«) berichtete ich Reynolds begeistert, dass führende internationale Popmusikkritiker und Cultural-Studies-Koryphäen tolle Artikel verfassten und, hier in Wien, vortrugen, beklagte zugleich aber auch, dass das Symposium zum Wettstreit zwischen den Ideolog(i)en der Sixties und Seventies ausartete. Utopien, Visionen, Vorschläge oder Ideen für die Zukunft blieben durchwegs ausgespart. Bereits damals das eindeutige Signal: No UTOPIA in our house, RETRO is here to stay, Sixties & Seventies are KING! Und Reynolds schmunzelte.
»Immer Ärger mit dem Rückspiegel«
Mit seinem im Vorjahr erschienenen und nun im Ventil-Verlag auf Deutsch veröffentlichten Buch »Retromania« reversierte Reynolds die Problematik, warf den Ball den Musikern und dem Publikum zu und fabrizierte dabei den letztjährigen Verkaufs- und Diskussions-Topseller der Pop(theorie)bücher schlechthin. Musiker würden heute vornehmlich/lediglich Retroschleifen produzieren, die Hörer wollen vorrangig/ausschließlich Pop aus den Goldenen Zeitaltern hören. Gewieft.
Wie Didi Neidhart (der auch das Vorwort zur deutschen Ausgabe von »Retromania« verfasst hat) in seinem Artikel »Immer Ärger mit dem Rückspiegel« (skug 88) argumentiert, verhandelt Reynolds dabei »das selbstgemachte Problem der Rockmusik, die ewig einem imaginierten Urzustand nachläuft, der irgendwo zwischen Vormoderne und Moderne gewesen sein soll und den dann Roxy Music & Co. ein für alle Male kaputt getrampelt haben«.
Doch verbleiben wir mal nicht auf der ästhetischen Ebene, denn Reynolds ist ein Schelm: Einerseits beeindruckt/überfordert er in »Retromania« den Großteil der Leserschaft mit einer umfangreichen Fakten-Fülle. Andrerseits gelingt es ihm damit geschickt/perfide, von einem Fakt abzulenken: Reynolds selbst hat als einer der führenden Popkritiker seit den Siebzigern zu einem nicht unwesentlichen Teil jenes Problem mitproduziert, das er hier nun aufzudecken vorgibt. Sixties und Seventies wurden von Musikkritikern in die Pophistorie als »die zwei ultimativen Hochblüten forever« in Stein gemeißelt. Seitdem hat sich dieser Pop-Hegemonie alles unterzuordnen, eben als Kopie/Blueprint, Abklatsch oder Retro.
Wohl erweist sich Reynolds in »Retromania« einmal mehr als einer der führenden Top-Pop-Archivare, zaubert aber auch hier wieder, ideologisch motiviert, zweifelhafte Schlüsse herbei. Denn alles muss dem Kanon untergeordnet werden. »Retromania« ist also keineswegs, wie die »Süddeutsche Zeitung« schrieb, »eine neue Zivilisationskrankheit«, sondern für das Gros der Popmusikhörer sowie Produzenten ein Utopia der zwei dominanten Pop-Ideologien (jener der Sixties und der Seventies). Doch das Ende der Tage der »Retromania«-Herrschaft ist bereits in Sicht.
Dritte große Poprevolution
Bei besagtem Wiener Kaffeehausgespräch mit Reynolds bedauerte ich zudem, dass die traditionelle Pop/Rockband-Formation grundsätzlich überholt sei und insbesondere das Gros der Musik von anglo-amerikanischen Formationen saft- und kraftlos erschiene: so, als wäre ein Land seiner kulturellen Bodenschätze, seiner Ressourcen beraubt worden. (Diese Argumentation erinnert mich heute übrigens an das Ecocide-Konzept von Polly Higgins, siehe Elevate-Festival 2012). Zudem rezipieren Kritiker auch lediglich Kopien von alten Heroes und wären an Revolutionärem nicht interessiert. Neuartiges fände man nur noch selten auf Independent-Labels, sondern vorrangig im Internet.
Entgegen einem Hauptargument von »Retromania« sind die popmusikalischen Innovationen unsrer gegenwärtigen Epoche keineswegs abhanden gekommen. Ganz im Gegenteil: Anhand der Digitalisierung der Musik und der (teilweisen) Demokratisierung des Pop durch das Internet (das Reynolds ironischerweise eher suspekt ist) sowie einer damit einhergehender totalen Veränderung/Umstrukturierung der Popmusikwelten, befinden wir uns heute nicht mehr nur in einer »Retromania«, sondern längst auch schon in der dritten großen Poprevolution. Veränderte Kompositions- und Arbeitsweisen, eine massive Erweiterung der Sounds, durch Miteinbeziehen von sämtlichen zur Verfügung stehenden Klängen, Geräuschen, und Noise haben jetzt schon unser Verständnis von Musik komplett verändert. Hierfür bedarf es nun wirklich keiner utopischen Vision mehr. Nicht ewig wird Pop als Retro diffamiert werden können. May you come with it or stay in Nostalgia/Retromania.
Dennoch: Reynolds »Retromania« ist zweifellos das wesentlichste Poptheoriebuch der letzten Jahre und wird dies auch noch einige Zeit lang bleiben.
Simon Reynolds: »Retromania – Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann«. Aus dem Englischen von Chris Wilpert.
Mainz: Ventil-Verlag, 16. 10. 2012, 432 Seiten, EUR 29,90
www.ventil-verlag.de
Lesetour Simon Reynolds/Chris Wilpert
16. 10: Berlin/Festsaal Kreuzberg, 17. 10. Hamburg/Golem,18. 10. Köln/King Georg, 19. 10. St. Gallen/Palace (CH), 20. 10. München/Optimal Plattenladen, 21. 10. Wien/Phil, 22. 10. Wels/Schlachthof, 23. 10. Nürnberg/Musikverein, 24. 10. Marburg/ Trauma, 25. 10. Frankfurt/Orange Peel