Seit einigen Jahren erleben New Wave und 80s-Ästhetik ihr hippes Revival. Melancholie wird in achtsekündige TikToks verpackt, trostlose Hochbauten werden romantisiert, die Verwendung des Wortes Brutalismus im Namen ist Erfolgsrezept für neue Bands und überteuerte Bars. Sie findet wieder Anklang, die düstere Schwere hinter tiefen Synths und Lo-Fi Drums. Denn sie spiegelt den Nebel wider, der sich in jungen Köpfen ausbreitet. Schon damals waren Joy Division und Depeche Mode die Antwort auf unsichere Zeiten. Heute heißt eines der bekanntesten Sprachrohre der Szene Molchat Doma und kommt aus Belarus.
Vom Schatten in die Finsternis
Molchat Doma, das ist das Trio bestehend aus Sänger Egor Shkutko, E-Bassist Pavel Kozlov und Roman Komogortsev hinter E-Gitarre, Drumcomputer und Synthesizer. 2017 in ihrer Heimatstadt Minsk gegründet, haben die drei sich zusammengeschlossen, um Musik zu machen, die schon ihre Eltern gehört haben. Darunter auch die russische Band Kino, die Helden der Perestrojka-Ära. Zu Beginn positionierten sich Molchat Doma allerdings weniger klar im Politikgeschehen als ihre musikalischen Idole. Ihr Werk sei nicht unbedingt als Antwort auf schwierige Lebensumstände, sondern mehr als Interpretation künstlerischer Vorlieben zu verstehen und das Leben in Belarus sei für sie gar nicht besonders herausfordernd gewesen, sondern recht unspektakulär. Ob sie das wirklich so gemeint haben oder bloß vorsichtig mit ihren Aussagen waren, um Auftrittsverboten der russischen Regierung zu entgehen, sei dahingestellt.
Mittlerweile hat sich der Ton jedenfalls geändert. Sowohl in öffentlichen Statements (die Band musste Belarus 2022 hinter sich lassen und ist nach Los Angeles übersiedelt, kritisiert den russischen Angriffskrieg und spendet Teile ihrer Einnahmen an humanitäre Hilfsprojekte in der Ukraine) als auch im Klang des neuesten Albums. Während ihr Debüt »S krysh nashikh domov« (»Von den Dächern unserer Häuser«) aus 2017 und das im folgenden Jahr erschienene Album »Etazhi« (»Etagen«) einen stark charakteristischen trübseligen und genredefinierenden Weg geebnet haben, der 2020 auf »Monument« eine überraschend verspielte und Disco-lastige Wendung genommen hat, biegen Molchat Doma mit »Belaya Polosa« nochmal in ganz unerwartete Richtungen ab. Die Stimme verhallt tief und unheilvoll, die Drums peitschen hart und schonungslos, Melodien werden polyrhythmisch freigesetzt. Textlich werden Umstände des Aufbruchs aufgegriffen, der Endlichkeit, der Ungewissheit. Auf der ständigen Suche nach dem »Weißen Streifen« in der Dunkelheit lassen die Musiker ihre dystopischen Gedanken frische Luft schnappen in tranceartigen Arrangements und vertonen Stimmungswechsel in verschiedenen Graustufen.
Die Hymne der Heimatlosen
Das endgültige Verlassen ihrer Heimat Minsk ist Schwerpunkt auf »Belaya Polosa«. Molchat Doma sind mit komplexen Herausforderungen konfrontiert, seit sie ihr Zuhause aufgeben mussten. Im eigenen Land in Gefahr und des Zugehörigkeitsgefühls beraubt; in den USA zwar sicher, aber nicht vertraut. Missverstanden, unsichtbar und ziellos werden sie auf eine Welt losgelassen, die sich immer wieder entzweit. »Schmerz und Unmut dieser Tage, es scheint keinen Unterschied zu machen / Wie sehr sich doch alle daran gewöhnt haben« singen sie, wie immer auf Russisch, auf dem namensgebenden vierten Song des Albums. Was einmal selbstverständlich war, wird man vermutlich nie wieder erleben; was einmal unvorstellbar war, ist der neue Standard. Der Kompass durch die Aussichtslosigkeit sind langatmige Synths, bedächtige E-Gitarren und ein unberechenbarer Wechsel aus zügigen Drums und behutsamen Rhythmen. Ein Kompass, der durch lange Strecken deprimierender Wortgeflechte navigiert, manchmal jedoch ein Schlupfloch in unbeugsamer Romantik findet. Schließlich ist der Kontrast zwischen Helligkeit und Dunkelheit und die gleichsame Betonung beider Extreme bezeichnend für diese Band. Auf dem achten Titel »Ne Vdvoem« (»Nicht zusammen«) findet Shkutko Rückhalt in einem anderen Menschen: »Lass die Körper ineinander greifen / Leere deinen Geist / In einer Welt voller Chaos / Werden wir uns von der Erde befreien«.
Mit hinreißendem Pessimismus und aufrichtiger Orientierungslosigkeit wählen Molchat Doma Worte, die sich unter die Haut brennen, um hinter all dem Schmerz noch ein bisschen Wärme zu spenden. Wer ihnen etwas von dieser Wärme zurückgeben will, sollte sich am 21. November im Gasometer einfinden. Es ist Zeit, solidarisch und ein bisschen traurig zu tanzen.
Link: https://molchatdoma.com/