Traurig ist ein posthumes Release. Und doch freut es, wenn dieses dann so stark ausfällt und den Verstorbenen aufrecht aus dem Jenseits herauswinken lässt. Phill Niblock, über 50 Jahre wegweisende Stimme im Bereich minimalistischer Musik, unverkennbar durch seine mikrotonalen Drones, verstarb Anfang des Jahres überraschend in New York. Niblock arbeitete in frühen Jahren mit Christina Kubisch, produzierte Arthur Russell, steuerte für Eliane Radigue Artwork bei, beeinflusste Carl Stone und Alva Noto und bekommt jetzt noch einmal Aufmerksamkeit für ein zeitloses, modernes Werk. Zu danken ist vor allem Anna Clementi und Thomas Stern, die die von ihm bereitgestellte Komposition weiterbearbeiteten und schließlich gemeinsam in Berlin aufnahmen. Das erste Stück beginnt mit einem Schreiten durch düstere Gewässer, vielleicht durch einen Fluss oder ein Meer, vermutlich bei Nacht. Unheimlicher Singsang begleitet das Plätschern, geht über in ein Dröhnen, das wiederum fluide in einem Gesang mündet. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Quellen, natürliche Stimme oder Instrumente, sind kaum mehr auszumachen. Es ist die Wassergöttin Nestis, die sich die Kraft des strömenden Wassers zu eigen macht und mit ihm singt, und dann sind es schlicht die Sirenen der Odyssee, die die Hörenden an den Ohren in die Tiefe der Klangkaskaden zieht, die immer lauter und intensiver werden. Ohne Aussicht auf eine Rückkehr geht es immer tiefer und tiefer, wobei einem sämtliche verlorenen Seelen ihren Schmerz zusingen. In der zweiten Version ist der Gesang Anna Clementis klarer, vordergründlich, die Drones rauschen das Summen eines Hornissenschwarms, die Atmosphäre gleicht weniger dem Fall gen Meeresgrund, sondern einem langsamen Waten durch die Mangroven, es sind noch einzelne Platsch-Laute zu vernehmen. Während der erste Track der Katastrophe der »Titan« gewidmet ist, dem U-Boot, das bei der Reise zur Titanic von dem Druck der Tiefe gefressen wurde, durchlebt man im zweiten Stück den Fiebertraum Martin Sheens in »Apocalypse Now«, mit Aussicht auf Rückkehr in die Zivilisation.
Phill Niblock / Anna Clementi / Thomas Stern
»Zound Delta 2«
Karlrecords
Text
Lutz Vössing
Veröffentlichung
05.04.2024
Schlagwörter
Anna Clementi
Karlsrecords
Phill Niblock
Thomas Stern
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