Allein 2012 erschienen mehr als zwanzig Tonträger, auf denen der norwegische Schlagzeuger Paal Nilssen-Love zu hören ist. Die Zahl seiner Kollaborationen ist nahezu unüberschaubar. Er spielte mit Peter Brötzmann und Pat Metheny, mit Ken Vandermark und Håkon Kornstad. Am bekanntesten ist vermutlich seine Zusammenarbeit mit Mats Gustafsson und Ingebrigt Håker Flaten bei The Thing, zu der sich im vorigen Jahr Neneh Cherry gesellte. »The Cherry Thing« war eines der mitreißendsten und aufregendsten Jazz-Alben 2012 und hat an die 20.000 Stück verkauft. Höchste Zeit, den sympathischen Norweger zum skug-Interview zu bitten.
skug: In einem früheren Interview war zu lesen, dass Sie schon als Einjähriger die erste Trommel bekamen und Ihr Vater einen Jazzclub im norwegischen Stavanger hatte.
Paal Nilssen-Love: Mein Vater hatte schon in London einen Jazzclub, bevor er etwa 1973 nach Norwegen zog, erst nach Molde, dann nach Stavanger, wo er von 1979 bis 1986 den Club gemeinsam mit meiner Mutter betrieb. Dort holte ich meine ersten Jazzeindrücke. Besonders prägend war sicher Art Blakey, auch weil er so ein warmherziger Mensch war. Als wir ihn zum zweiten Mal trafen, rief er uns entgegen: »Where are my boys?«
Ihr Vater war ebenfalls Drummer?
Ja, im Grunde genommen schon, er war Lehrer an der Kunstschule. Meine Mutter übrigens auch, aber er brachte hauptsächlich das Geld nach Hause. Er malt mittlerweile und ist 72. Meine Mutter ist 65 und steht kurz vor der Pensionierung. Jedenfalls nahmen mich meine Eltern auch zu Jazzkonzerten mit, so wurde ich früh mit Unmengen an Musik konfrontiert.
Dadurch war der Weg zum Schlagzeug praktisch vorherbestimmt?
Nicht ganz, das Drumset stand natürlich immer zu Hause, also im Club herum. Aber als es um die Aufnahme in die Schulband ging, im Alter von sieben Jahren, hätte ich eigentlich Trompete spielen sollen, zumindest wollte ich das ursprünglich. Aber ich versprach mich und sagte »drums« anstatt »trumpet«. Meine Eltern waren überrascht, aber es ist dabei geblieben. Von 1993 bis 1994 war ich an der Sund Folkehøgskole und von 1994 bis 1996 studierte ich am Trondheim Musikkonservatorium. Allerdings gab es dort so gut wie keinen guten Lehrer für Schlagzeug, ich lernte praktisch nur durch das gemeinsame Spielen und durch das Zuhören.
Wer waren Ihre großen Lehrmeister im Jazz?
Phillip Wilson und Steve McCall, zwei leider nicht ganz so bekannte Drummer, vielleicht auch ein wenig unterschätzt.
Und Tony Williams? Ich hatte das Gefühl, hier gibt es gewisse Parallelen, vor allem das Spiel mit den frei wandernden Synkopen …
Man schnappt auf, was immer man hört, ob es Tony Williams oder Musik aus Äthiopien ist. Es geht in den Körper und von dort kommt es wieder raus. Aber ich hörte immer lieber Elvin Jones, auch weil ich das Miles Davis Quintet sehr unterkühlt fand. Das John Coltrane Quartet war mir lieber. Die Leute sagten immer zu mir: »Du musst dir die »Plugged-Nickel-Box« anhören!« Aber mir kam das immer wie Angeberei vor. Wenn schon Tony Williams, dann lieber mit Lifetime [d. i. die gemeinsame Band mit John McLaughlin, Anm. d. Red.]
Und Ed Blackwell?
Ja, unbedingt, hätte ich jetzt vergessen. Er ist fantastisch.
War die Marschrichtung Jazz von Anfang an klar oder gab es nicht auch den Wunsch, in Richtung Pop zu gehen?
Als ich in den ersten Jazzbands anfing, fragte mich ein Typ, ich glaube der Bruder einer Ex-Freundin, ob ich bei seiner Band mitmachen will. Ich ging zu den Proben und wir spielten J. J. Cale und solche Sachen, aber ich merkte schnell: »Nein, das ist nicht mein Ding.« Ich fand das wirklich langweilig, aber die Musiker waren auch ein bisschen trübe. Mir war klar, dass Jazz und energy rock music eher meine Sache waren.
Wie war die Situation von Jazz und improvisierter Musik damals in Norwegen? Lag nicht der Gedanke nahe, dass man von dieser Musik vermutlich nicht leben kann?
Nein, darüber denkt man nicht nach. Mit 15 Jahren spielte ich mit Frode Gjerstad, der damals Anfang 40 war, ein sehr großzügiger Mensch, der gerne etwas an junge Musiker weitergibt. Da ging es nur darum, einfach zu spielen und zu lernen. Erst nach dem Musikkonservatorium dachte ich daran, eine zweijährige pädagogische Ausbildung zu machen, damit ich später einen Brotberuf hätte, falls es mit der Musik nicht klappt.
Es hat aber dann doch geklappt …
Letztes Jahr habe ich 196 Konzerte gespielt, was schon ein wenig krank ist. Aber ein Konzert in der improvisierten Musik ist nicht bloß ein Konzert, sondern eine Möglichkeit, etwas zu lernen, sich weiterzuentwickeln.
Trotzdem ließe sich für den besten zeitgenössischen Drummer im Pop viel mehr Geld verdienen?
Im Jazz ist eben weniger Geld zu verdienen. Aber ich lebe nicht schlecht, ich gebe nur viel zu viel Geld für Musik, für Platten aus. Ich bin generell nicht gut im Umgang mit Geld und schaffe es nicht, mir etwas zur Seite zu legen. Aber ich spiele nicht wegen dem Geld.
Hat die improvisierte Musik nicht zunehmend ein Problem beim Finden eines neuen Publikums?
Es hängt immer auch von der Präsentation ab. Es gibt in Norwegen Jazzclubs, die immer nur von denselben zwanzig Leuten, meist so um die 65 Jahre alt, besucht werden. Diese Clubs tun einfach nichts, um ein neues Publikum anzusprechen.
Ist das nicht auch von Land zu Land verschieden? Ich habe erst vor kurzem in Polen ein aufgeschlossenes und vor allem junges Publikum erlebt.
Polen ist in dieser Hinsicht extrem. Dort gibt es wirklich einen Hunger nach neuer Musik, das Publikum ist gut durchmischt und bereit, sich auf Unbekanntes einzulassen. Darum gibt es dort immer eine wunderbare Energie. Ähnlich ist es auch in anderen osteuropäischen Ländern, je östlicher umso besser, etwa in der Ukraine. In eine ähnliche Richtung geht es nach wie vor in den USA, ein wenig bequemer vielleicht. Aber in Norwegen, das ist teilweise fürchterlich, die Leute gehen nicht zu Konzerten, sie bleiben lieber zu Hause, sitzen auf der Couch und schauen fern.
Vielleicht sind sie verwöhnt und überfüttert von der vielen guten Musik?
Ûberfüttert und zu reich und zu faul.
Liegt es nicht doch daran, dass sich improvisierte Musik bzw. zeitgenössischer Jazz besser präsentieren oder verkaufen sollte?
Nicht verkaufen, aber man muss eben mit dem Publikum kommunizieren, mit Jung und Alt, mit Mann und Frau. In Deutschland etwa spiele ich oft vor einem sehr alten Publikum, meistens Männer … in Österreich ist es ein wenig besser. Zur Kommunikation gehört natürlich Facebook, Twitter, aber auch die klassische Mundpropaganda.
Manche Musiker sagen: »Das ist nicht mein Job!«
Richtig, bei uns macht Ken das Netzwerken, ich habe gar keine Zeit für all diesen well, let’s not say bullshit. Natürlich gibt es noch die Leute, die nach der alten Methode einfach warten, bis das Telefon klingelt. Aber die haben dann nicht so viele Auftrittsmöglichkeiten.
In welche Richtung geht die improvisierte Musik bzw. der zeitgenössische Jazz bzw. bewegt sich da überhaupt etwas? Ich meine, bei all den Kollaborationen und Gigs stehen Sie doch genau im Zentrum dieser Musik.
Ja, aber es ist einfacher, über Dinge zu sprechen, wenn man ein wenig Abstand hat. Ich bin mitten drinnen, darum habe ich keine Ahnung. Ich tue mein Bestes, ich spiele so viel wie möglich mit so vielen Menschen wie möglich. Mit allen möglichen Stilen, allen möglichen kulturellen Hintergründen … Der kulturelle Hintergrund spielte vor zehn Jahren eine größere Rolle. Mittlerweile ist es üblich, dass sich Bands aus verschiedensten Nationalitäten zusammensetzen. Wohin sich die Musik entwickelt, wird weniger durch bestimmte Stile oder regionale Eigenheiten definiert als vielmehr durch die jeweilige Zusammensetzung. Großen Einfluss hat natürlich auch das Internet, besonders was die persönliche Vernetzung und Verfügbarkeit von Musik betrifft.
Hat nicht auch die Elektroakustik, Stichwort Laptop, zu einer stilistischen Nivellierung beigetragen?
Das Problem ist, dass die Laptops zwar verschieden sind, die Leute aber oft dieselben, meist eher langsamen Programme verwenden. Ein Freund von mir ist von seinen Effektgeräten und Pedalen auf den Laptop umgestiegen und vor kurzen wieder bei den Pedalen angelangt, weil das einfach more instant ist.
Feiert darum der Jazzrock ein Comeback? Auch The Thing spielen sehr druckvoll und rifforientiert.
Jazzrock ist eine Genrebezeichnung aus den 1970ern, die ich nicht verwenden will. Auf jeden Fall wird heutzutage auf alle Stile zurückgegriffen, es gibt keine Traditionsverpflichtung mehr. Darum sagten wir bei The Thing: »Ganz egal, wir nehmen einen E-Bass, wir spielen energetisch und hart, wir covern die Yeah Yeah Yeahs und PJ Harvey, warum nicht?« Es fühlte sich einfach richtig an, das zu tun.
Vielleicht eine Reaktion auf den schon angedeuteten Einheitsbrei in der improvisierten Musik?
Vielleicht, aber mehr noch habe ich eine Art rohe Energie in der Improvisationsmusik vermisst. Die Leute sind so fürchterlich höflich auf der Bühne – und abseits der Bühne. Es ist manchmal gut, ein wenig action zu haben. Dazu eignen sich Covers und der Rekurs auf die Rockmusik ganz gut, das ist ja das Schöne an Rockmusik, dass sie wesentlich auf Riffs basiert. Das nutzen wir, um das Beste rauszuholen. So ähnlich war es auch mit The Ex auf »Lean Left« [Live-CD von 2012, Anm. d. Red.]. Oder mit den Rhythmen, die ich in Addis Abbeba aufgeschnappt habe, als ich gemeinsam mit The Ex dort war. Mit Ken Vandermark wiederum gehe ich mehr in Richtung Soulmusic … bei mir ist das einfach so. Das funktioniert nicht intellektuell, ich lasse die Musik in mich eindringen und dann geschieht es einfach. Ich halte nichts davon, wenn jemand glaubt, dass man sich abschotten und nur die »eigene« Musik spielen kann. Ich meine, wessen Musik ist das, diese »eigene« Musik? Es gibt keine »eigene« Musik.
Und was hört Paal Nilssen-Love, wenn er zu Hause sitzt? Auch improvisierte Musik?
Nein, das nie. Ich höre alles Mögliche, was ich eben so zusammenkaufe, wenn ich unterwegs bin. Wie gesagt, ich habe viel zu viele Platten und CDs.
Paal Nilssen-Love tout vom 27.05. ~ 06.06.2013 mit der dreiköpfigen Formation »Fire Room« (Ken Vandermark, Paal Nilssen-Love, Lasse Marhaug) quer durch Europa. Am 29.05 beehrt »Fire Room« dabei Villach, am 31.05 das Wiener Chelsea und am 02.06 Köln.