Nach »brennend« ist »ohne Orchester« bereits der zweite schmale auf Deutsch erschienene Gedichtband von Grzegorz Kwiatkowski aus Gdansk, der die Gräueltaten während der Okkupation Polens durch Hitler-Deutschland in Erinnerung ruft. Als Josef, der Großvater von Kwiatkowski, dem Neunjährigen das KZ Stutthof (Sztutowo) zeigt, bricht er vor Erinnerungsschmerzen beinahe zusammen. Ein Trauma, das er mit seiner Schwester Marta teilen muss und das auch auf den Enkel einwirkt. Ursache war laut von ordnungsbesessenen Nazi-Schergen geführtem KZ-Schutzhaft-Heft »Erziehung« wegen »dauernter Störung« (sic!) des »Arbeitsfriedens«. Jedenfalls ist besser, dass davon erzählt wird, als dass sich ein schwer dechiffrierbarer Schatten über die Familie legt. Deshalb hat der Autor dieser Zeilen, der seit dem denkwürdigen Konzert von Trupa Trupa beim Festival Waves 2018 mit Kwiatkowski in Kontakt ist, um Fotos gebeten, die die Rezension von »ohne Orchester« illustrativ begleiten.
Ein Berg aus Schuhen
2015 hat Grzegorz Kwiatkowski zigtausende verrottete Schuhe von KZ-Opfern im Wald in der Nähe des KZ Stutthof gefunden. Laut »The Guardian« waren es etwa eine halbe Million Schuhe. Dieses traumatische Ereignis sollte Kwiatkowskis Laufbahn als Lyriker begründen. Fünf Jahre kämpfte er dafür, dass dieses gewaltige Zeugnis des Völkermords in seiner Gesamtheit ausgestellt werden sollte. Im Museum der Gedenkstätte Sztutowo wird nur ein kleiner Bruchteil der Schuhe ausgestellt, die Verantwortlichen ließen den Rest auf dem Museumsgelände vergraben. »Sie versteckten die Zeugnisse des Völkermords, ich dagegen will alles aufdecken«, zitiert Peter Constantine, der mit schlichten, beklemmenden Worten und Beistriche meidend ins Deutsche übersetzte, den Autor im Vorwort, das mit einer noch eindringlicheren Vorahnung aufwartet: »Wir dürfen unsere tragische Vergangenheit nicht vergessen. Denn sie könnte wiederkommen. Der Mechanismus für seine Rückkehr wurde bereits in Gang gesetzt.« Das Wort »seine« in diesem Satz benennt das Böse, den Faschismus. Die allmähliche Entmenschlichung beim Übergang von einem zunächst noch demokratisch scheinenden in einen totalitären Staat passiert schleichend. Viele Staatsbürger*innen kümmert das, selbst wenn sich eine Diktatur etabliert hat, nicht. Weil sie ihr gutes Leben weiterführen wollen. Mensch ist dann Bestandteil eines Unrechtsstaates und verharmlost seine Mittäterschaft.
Hingelegt
als sie den Polizisten Dudin verhafteten
fragten sie ihn ob er wirklich lebende Kinder in die Grube geworfen habe
er antwortete: ich habe sie nicht geworfen ich habe sie nur hingelegt
Unweigerlich wird mensch zum Täter, wenn er nicht ein Gewissen hat, das ihn zumindest den Job aufkündigen lässt. Das Grauen wird geduldet, weil die Staatsmacht Mittel und Wege hat, ein Zuwiderhandeln bis zum Tod zu bestrafen. Hier das krasseste Beispiel, dass selbst ganz oben in der Befehlskette darauf hingewiesen wird, dass man angeblich nur ein Rädchen ist, das das ausgeklügelte System der Repression und Mordmaschinerie am Laufen hielt:
Unschuldig
niemand kann alleine eine Brücke bauen
und niemand kann einen Massenmord alleine begehen
deshalb bin ich Adolf Eichmann unschuldig
In memoriam Lew Rubinstein
»Nie wieder« – dieser Slogan gegen Faschismus greift nicht. Ein Bodensatz an Rechtsextremisten trieb in den Täterstaaten immer schon sein Unwesen und gelangte und gelangt auch in Europa leider vermehrt in Regierungsämter. Besonders schlimm ist es dort, wo die Staatsdoktrin die Vergangenheitsbewältigung unterbunden hat. Die NGO Memorial, die den Opfern des Stalinismus und nachfolgenden kommunistischen Staatsunrechts half, wurde im Dezember 2022 verboten. Dies markierte den Weg in eine nihilistische, faschistische Diktatur, die Stalin rehabilitiert hat. Unweigerlich musste der Autor dieser Zeilen beim Gedicht »Benzin« an Lew Rubinstein, am 14. Jänner 2024 von einem vom Putin-Regime gedungenen Rowdy via fingiertem Autounfall 76-jährig ums kostbare Dichterleben gebracht, denken.
Benzin
der verrückte Rubinstein sang im Ghetto
alle gleich!
alle gleich!
vor dem Tod sind alle gleich
und das brachte gute Stimmung
aber man führte uns ins Lager
in einer großen Grube brannten Kinder
und man schürte das Feuer mit Abfall und Benzin
Vernichtung alles Lebendigen und Menschlichen
Lew Rubinsteins orchestrierte Ermordung sollte wie einer normaler Verkehrsunfall aussehen. Warum wohl wurde der prominente oppositionelle Intellektuelle getötet? Genau aus dem Grund, aus dem sehr viele Gegner des Nazi-Terrors ermordet wurden. Nicht weil er Jude war, sondern aus der kranken Sicht Putins ein deklarierter Feind: »Im März 2022 gehörte Rubinstein zu den Unterzeichnern eines Appells russischsprachiger Schriftsteller an alle Russisch sprechenden Menschen, innerhalb Russlands die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten. Nach fünf Monaten Krieg verglich er die Angst mit den Zuständen in stalinistischen Zeiten; so schrieb er, es sei ›sicherer‹, in einer Warteschlange nur zuzuhören, statt mitzudiskutieren. Der Kreml sei starr wie eine Betonplatte. Rubinstein schrieb diesem Block eine Obsession zu, ein ›Typhus-Delirium‹, in welchem sich das Regime von lauter Feinden umgeben sehe; es bilde sich ein, jene würden ständig nur überlegen, wie sie Russland schaden könnten. Dabei sei es doch ganz einfach so, dass ›alles Lebendige und Menschliche gegen sie ist. Alles, was mit einer menschlichen Stimme atmet, fühlt, denkt und spricht.‹« (Wikipedia: »FAZ«, »Republic.ru«)
Geschichte wiederholt sich, nur anders, in Russland als Farce und Tragödie zugleich. Wie würden wir uns verhalten? Wenn die Demokratie gekapert wird, entscheidet sich die Masse fürs Mitläufertum. Als Oppositioneller kann mensch nur noch im Asyl die Kritik fortsetzen, wenn er nicht sein Leben riskieren will. Dabei blieb sich Rubinstein Zeit seines Lebens nur selbst treu, als sozialer Aktivist, Journalist und Schriftsteller. In den 1970er- und 1980er-Jahren war der Sohn jüdischer Eltern ein herausragender Moskauer Konzeptualist im Samizdat-Underground. Auf der Scholochow-Universität für Geisteswissenschaften war der Familienmensch Bibliothekar und Bibliograf, was ihn zur Veröffentlichung seiner Gedichte auf Notizkarten inspirierte.
Morde »ohne Orchester«
Grzegorz Kwiatkowki thematisiert in seinem Buch auch die mangelnde Vergangenheitsbewältigung in Polen, wo wegen Nichtaufarbeitung und der wichtigen Rolle der katholischen Kirche der Antisemitismus allzu oft »vererbt« wird. Die schreckliche Historie wurde während des Kommunismus unter den Teppich gekehrt und ist daher längst nicht überwunden. Kritik an den Schandtaten der eigenen Landsleute an Juden während der Besatzung durch Nazi-Deutschland gilt vielen Polen als Vaterlandsverrat. Schlagend wird dies im Schlussgedicht, das auf den Buchtitel verweist: »Leokadia Blajszczak« spricht im gleichnamigen Poem von Lügen, dass es nicht stimme, dass in Jedwabne Fußball mit abgehackten Köpfen gespielt wurde, während Klarinetten spielten: »Es gab zwar eine freiwillige Feuerwehr aber ohne Orchester.«
Ans Ende sei trotzdem auch der Euthanasie-Wahn im »Tausendjährigen Reich« gestreift. Als Mahnung. Ein hoher Lebensstandard hilft nicht, wenn von ME-CFS extrem geschwächte Long-Covid-Betroffene schikaniert werden oder Pflegeheime an profitgetriebene Konzerne verkauft werden. Ganz zu schweigen von Indigenen, deren Kinder aufgrund von Boden-, Luft- und Wasservergiftung infolge Extraktionen für den Imperialismus der Weltmächte dahinsiechen …
Tot
die Sterbenden hofften auf eine gute Nachricht
und ihnen wurde eine gegeben
euer behinderter Sohn ist tot
Link: https://parasitenpresse.wordpress.com/2024/08/19/grzegorz-kwiatkowski-ohne-orchester/