Als Joey Ramone vor achtundreißig Jahren die Ramones gründete, hätte er wohl nicht im Traum daran gedacht, dass es im 21. Jahrhundert möglich ist, sich am Joey Ramone Place in New York aufzuhalten, das Ramones Museum in Berlin zu besuchen und bei Kleiderdiskontern in aller Welt T-Shirts mit dem Logo der Band zu kaufen. Denn obwohl die Ramones einen ihrer Songs großspurig »We Want The Airwaves« betitelten, ging es der Band zuallererst doch darum, den angepassten Lebensentwürfen älterer Generationen etwas entgegenzusetzen und der Rockmusik ihre Unmittelbarkeit zurückzugeben, die Mitte der 1970er Jahre verlorenzugehen schien. Einige Jahre lang gelang das den Ramones besser als jeder anderen Band. Daher wählt der »Rolling Stone« deren Debütalbum heute auf Platz 17 der wichtigsten Alben aller Zeiten, daher covern Musikclowns wie Green Day deren Klassiker »Blitzkrieg Bop« live bei Konzerten, während der Band gleichzeitig in Szenekreisen nach wie vor höchste Verehrung entgegengebracht wird.
It’s A Hard Life
So genial die Ramones waren, so tragisch waren die Lebensgeschichten einiger der Bandmitglieder. Nicht nur das frühe Ableben dreier Ur-Ramones (Joey starb im Jahr 2001, Dee Dee ein Jahr darauf und schließlich Johnny im Jahr 2004) ist bezeichnend; schon zu Lebzeiten hatte vor allem Joey Ramone schwere Probleme mit Zwangsstörungen. Diese veranlassten ihn etwa dazu, das Licht in Räumen wiederholt und ohne erkennbaren Sinn ein- und auszuschalten oder Stiegen mehrmals auf- und abzulaufen. Auch im persönlichen Umgang war Joey Ramone ein äußerst schwieriger Zeitgenosse, wovon sein Bruder Mickey Leigh im Detail zu berichten weiß. Dieser war stets tief in die Band integriert, arbeitete als Roadie und ist sogar auf Alben der Ramones zu hören, jedoch ohne dafür in den Credits Erwähnung gefunden zu haben (laut seinem Buch »I Slept With Joey Ramone« aufgrund von Einwänden Johnny Ramones) (Vgl. Mickey Leigh, Legs McNeil: »I Slept With Joey Ramone. A Family Memoir« (New York: Touchstone, 2009)).
Mickey Leigh blieb seinem Bruder, trotz häufigen und heftigen Streits, bis zu dessen Tod als treuer Freund erhalten und sorgt sich seither darum, dass Joeys Nachlass Fans in aller Welt zugänglich gemacht wird. Mit dem Erscheinen von »?? Ya Know?« ist dies nun wieder einmal der Fall. Doch das Album stellt den wohlwollenden Kritiker vor ein Dilemma. Angesichts aller musikalischer Leistungen, deren sich Joey Ramone verdient gemacht hat, hat man schon seine liebe Not mit dieser Platte. De Mortuis nil nisi bene gebietet noch dazu der Anstand, nur Gutes von den Toten zu sagen. Die Vermutung jedoch, dass den Autor bei allzu blumigen Umschreibungen der Peinlichkeiten auf »?? Ya Know?« schlimme Gewissensbisse plagen würden, verlangt letztlich nach schonungsloser Ehrlichkeit.
It’s All Too Much
Das Album ist kein adäquater Schlussstrich unter das Schaffen von Joey Ramone. Es stellt sich die Frage, ob der übertrieben fette Sound in Songs wie »Rock’N’Roll Is The Answer« oder »Cabin Fever« von Joey Ramone gewünscht war oder vielmehr post mortem an seinem Werk Schindluder getrieben wurde; vermutlich handelt es sich um eine Mischung aus beidem. Die Plattitüden ziehen sich durch das gesamte Album (»21st Century Girl«, »Going Nowhere Fast«). Songs nach dem Cock- Rock-Bastelset. Im skug-Interview gibt sich Mickey Leigh, der neben Ed Stasium als Produzent tätig war, recht bedeckt, was die ?berproduktion des Albums betrifft. Diese erstaunt nicht zuletzt, da ebenjener Leigh in seinem oben erwähnten Buch den rohen, ruppigen Sound des Debütalbums der Ramones ganz besonders positiv hervorhebt. Anno 2012 bleibt davon offenbar nicht mehr viel über. Diverse Gastauftritte von unter anderem Joan Jett, Richie Ramone und Mitgliedern der Dictators helfen dem Album nicht über seine Austauschbarkeit hinaus, wobei es Mickey Leigh hoch angerechnet werden darf, dass er Vorschläge Stasiums, berühmte Bands wie eben Green Day ins Studio zu holen, klar zurückwies.
Interessant wäre es gewesen, hätte Phil Spector an einigen der Songs gearbeitet, wie dies ursprünglich von Leigh geplant war. Eines der besseren Stücke des Albums, die Motown- Reminiszenz »Party Line«, wäre wie geschaffen für ihn gewesen. Letztlich war Spector allerdings zu »beschäftigt«, wie Leigh verrät. Es ist aber freilich auch nicht gesagt, dass er durch sein Zutun »?? Ya Know?« aus dem Sumpf gezogen hätte. Was somit bleibt, ist ein enttäuschendes Album, trotz vereinzelter Lichtblicke, wie eben »Party Line« oder dem poppigen »What Did I Do To Deserve You«. Denn wo alles dunkel ist, kann man schon das schwächste Licht klar erkennen. Und wenn vorne »Ramone« drauf steht, ist das einfach zu wenig.
Joey Ramone: »?? Ya Know?«
(Mutated Music /Rough Trade/Good To Go)