Es gibt Wels: zweitgrößte Stadt in Oberösterreich, wichtiger Bahnknotenpunkt, blaue Stadtregierung. Und dann gibt es Wels mit dem Improv-Festival Music Unlimited, bei dem Jahr für Jahr Weltklasse-Musiker*innen auftreten. Bekannt? Nicht unbedingt bei den breiteren Schichten der autochthonen Bevölkerung. Und doch ist es immer gut besucht, mit großen Namen wie Akira Sakata, Otomo Yoshihide (der im Quartett mit Sachiko M, Axel Dörner und Martin Brandlmayr im Rahmen von Wien Modern für einen ausverkauften Echoraum sorgte), Hamid Drake, Han Bennink im Duo mit Mette Rasmussen u. v. m. im Line-up – unter der Aufsicht von Kurator Ken Vandermaark wohl nicht verwunderlich.
Trotzdem ein kleines Wunder in einer Zeit von wirren Weltgeschehnissen, man muss es sagen, ohne groß politisieren zu wollen. Die Ermächtigung von rücksichtslosen Potentaten bewirkt letztlich einen Rückgang an Kulturförderungen, und zu hoffen ist, dass dem alternden Publikum ein jüngeres nachwächst. An diesem Wunder durfte skug teilhaben, wenn auch diesmal limited bei Unlimited: Aus persönlichen Gründen (und wegen dem ÖBB-Fahrplan) konnten die späten Konzerte, Duos am Nachmittag und die Sonntagskonzerte nicht besucht werden. Trotzdem lässt sich festhalten: Eine große Anzahl der Live-Acts hinterließen bleibenden Eindruck!
Tag Eins: No Pain, no gain
Das erste Konzert am Freitag, dem 8. November 2024 ist ein Quartett, bestehend aus Han Bennink, Hamid Drake, Andie Moor und Terrie Hessels. Letzterer, besser bekannt als Terrie Ex, verletzt sich gleich mal an der linken Hand und tränkt seine betagte Gitarre mit Blut. Und dem Blickwechsel mit Kollege Andy Moor nach zu urteilen, auch die Bühne, sodass mein erster Gedanke, inspiriert durch den Altersdurchschnitt im Publikum, ist: Hoffentlich nimmt der Mann keine blutverdünnenden Medikamente. Denn Schmerzen oder dergleichen werden entweder durch die Euphorie des Musikmoments oder mittels Punkattitüde negiert. Laut Wikipedia war Han Bennink schon einmal bei The Ex am Schlagzeug (1997), das Quartett harmoniert und spielt einander trotzdem Streiche – als Einstieg für den bevorstehenden Konzertabend perfekt. The Ex sind eben The Ex, wie schon 2023 wird eine der drei großen gusseisernen Säulen, die das Dach der Halle aus dem Jahr 1910 tragen, als Stilmittel zweckentfremdet. Wobei, für Industrial Jazz – darf man das so nennen? – passt so ein Riesenslide allemal. Auch Han Bennink legt eine Extraeinlage, nämlich das berühmte Hasen-Lied, hin und bittet darum, seine Mitmusiker mögen die Begleitung einstellen. »Sie sind sehr gut, aber das mache ich alleine«. No problem: Der alte Herr an den Drums schafft das klarerweise spielend. Das Ergebnis, ohne Förderung von Selbstständigkeit ab der Pension ansprechen zu wollen, ist etwas selbstironisch und drollig, professionell und recht rührend. Ein ums andere Mal sich entschuldigend, unterbricht Han Bennink, um ein paar Worte zu sagen und dann doch flott weiterzuspielen.
Man ist hingerissen von der spielerischen Art der Interaktion, mit der sich die Vier da gegenseitig Raum zur Entwicklung geben. Wie üblich bei solchem Impro-Jazz sind die angespielten Ideen so zahlreich, dass sich in einem Stück mindestens vier eigenständige Liedthemen verschränken. Es folgt lebendiger Applaus allenthalben, bevor Hamid Drake einige dankende Worte an alle und an Han Bennink im Besonderen richtet. Er sei diesem zu Dank verpflichtet, immerhin sei er der Erste gewesen, der Tabla-Trommeln außerhalb des indischen Kulturkreises bei westlichen Jazz-Sessions verwendet habe. Der Name des Drummers sei nicht so geläufig wie der von Duke Ellington – »The Duke, Count or Prez, Lady Day or Nina Simone« – woraufhin Bennink einwirft: »Oh, I’ve played with Simone…« Ein bisschen Ehrfurcht stellt sich ein, wenn der Mann, als damals handelnde Person wohlgemerkt, erzählt, wovon man bisher bestenfalls einen Mitschnitt kennt. Es geht doch nichts über Live-Konzerte, um solche Momente erleben zu können, aller Mäkelei zum Trotz, die sich manchmal auftut, wenn das Line-up so prestigeträchtig ist. Tatsache, Music Unlimited ist ausverkauft, aber per Streaming-Dienst konnten Interessierte, denen die Anwesenheit verwehrt blieb, zuhören.
Via Duos und Trios zum Headliner-Quartett
Doch weiter zum Duo Nate Wooley & Paul Lytton. Angenehm verspielte, aber langsam ausgearbeitete Klarinettentöne werden schließlich gegen eine Gitarre getauscht. Derartiger Aufbau und dessen erzeugte zwanglose Stimmung zeigen wohl, dass verlangsamter Beginn eine gute Basis für wohlgeformte Jazz-Sets ist. Vor allem, wenn die Drums so gut dazu passen. Darauf folgen g a b b r o: Hanne De Backer, Andreas Bral, Raf Vertessen könnten die jüngsten Teilnehmer*innen des Festivals sein. Klavier, Perkussion und Bassklarinette bzw. Baritonsaxofon bringen Töne hervor, die sich – wie’s ihre Natur ist – wie Wellen, wie quellender Atem auf das Publikum zubewegen. Ein schlängelnder Sound, man kennt das, wenn sich unterschiedlich mäandrierende Melodien zu Soundscapes vermengen. Das kommt, wenn man das Projekt des Trios »as we walk« bedenkt, nicht von ungefähr, sind sie doch die gesamte belgische Küstenlinie abgewandert und haben diese nicht nur in ihre Musik integriert, sondern ihrerseits die Musik den Elementen der Landschaft dort ausgesetzt, gewissermaßen hinterlegt. Mitunter, so wie es Wellen und auch Atem, hier durchs Instrument zum Klingen gebracht, an sich haben, scheinen sich stehende, wabernde Konstrukte zu bilden – »tones wavering in time«.
Die Zuhörer*innen werden schon etwas unruhig, gespannt auf die Szenerie, die erscheinen muss, unbewusst neigt man sich, aufmerksam lauschend, als das Klavier an Fahrt aufnimmt. Das Blasinstrument spuckt dann exotisch schräge Töne und erinnert auf einmal an eine verkürzte Version von »Caravan«. Damit änderte sich die Musik. Als wäre plötzlich Nebel aufgezogen, klingt es jetzt wie ein verregneter Stadtspaziergang in New York. Cool Jazz? Diese Drei huldigen zwischendurch ein paar allseits bekannten Jazz-Größen, ohne sich selbst in Zitaten zu verlieren. Sie konstruieren Melodien, die das Publikum bei dem abholen, was es kennt, und die zugleich zu Neuem hinleiten. Mir persönlich fehlt bei dieser Konstellation (wie so oft) eine Person am Bass, und ich bin immer wieder erstaunt, was man alles in einem Klavier spielen kann. So kommt es nach einigen zarten, leisen Sequenzen, die sich etwas zu ziehen scheinen, doch noch zu einem starken Teil mit schönen Klavierakkorden, bis die Dame an den Blasinstrumenten die Flöte auspackt und ein trauriger Abgesang auf die Humanität erfolgt. Oder?
Der Gig des Quartetts Otomo Yoshihide & Sachiko M & Axel Dörner & Martin Brandlmayr ist sehr atmosphärisch und trotzdem passagenweise leer. Die Reeds pusten tonlos, die Gitarre verhallt ohne Klang, die Drums scheppern minimal-style und Sachikos Synthesizer fiept. Dies sind die Fäden, aus denen die Musik des Quartetts gewebt wird. Der Stoff verdichtet sich und klingt doch einsam. Wie ein Stahlwerk auf Quaaludes. Ein großes Etwas, das sich leise ächzend bewegt und doch vor aller Ohren zerfällt. Man hört den Rost der Zivilisation, den Staub im Weltall, von der Bühne bis in die letzte Reihe, und immer wieder Partikel auf der Schallplatte – ein Vibe, ein Knistern, ein Hörtest? Eine tote Telefonleitung? Ein Radiator, der entlüftet wird? Und noch eine Scheibe wird auf den Plattenteller gelegt, Elektrohall, ein Ansatz von Rhythmus – ein gehauchter Musenkuss.
Tag Zwei mit Surprise-Set
Da ich Akira Sakata beim Festival in Nickelsdorf verpasst hatte, war die Vorfreude auf dieses Konzert von Arashi (Akira Sakata, Johan Berthling, Paal Nilssen-Love) groß, zumal Paal Nilssen-Loves Darbietung beim diesjährigen A L’Arme Festival in Berlin in guter Erinnerung geblieben ist. Der Musikgenuss lässt nicht lange auf sich warten, Sakata läutet mit japanischen Rezitationen und Glöckchen meditativ den Beginn des Sets ein. Nilssen-Loves Percussion – am Gong soll’s nicht scheitern – ist wie erwartet geschmeidig, prägnant und auch zum Zusehen interessant. Bassist Johan Berthling bringt die Saiten kunstfertig zum Tönen, und das ein oder andere Solo swingt abstrakt genug, damit es nicht zu plakativ nach Jazz klingt. Schließlich ist das keine Bigband! Sakata lässt Salven an Tönen aufs Publikum regnen, denen man anmerkt, dass er selbst gerade im Genuss steht.
Darauf folgt das Quartett von Oceanic Beloved, das sind Ben Hall, Jaribu Shahid, Marcus Elliot und Victor Vieira-Branco, die schön gefärbte Klangbilder erzeugen. Wieder feine Basslines, »very accomplished« würde man den Herrn am Bass wohl auf English nennen, »a real treat«. Gespielt wird ohne Attitüde mit Professionalität und virtuosen Einlagen, mit dem Schalk im Nacken, aber das scheint bei Jazz-Musiker*innen ohnehin zum Berufsethos zu gehören. Diese herzliche Art der Coolness überträgt sich definitiv aufs Publikum. Dazu kommt ein überraschender Einsatz von Bögen am Vibraphon, auch hier wird fröhlich, ohne die Stimmung zu vergeigen, ein neuer Ansatz ins Gesamtkonzept gefügt.
Das Surprise-Konzert von Mats Gustafsson und Terrie Hessels sowie »Improvised Painting« von Emma Fischer im kühlen Hof gleich neben der Halle ist leider etwas zu kurz. Bevor man sich richtig eingefunden hat, ist es auch schon wieder vorbei. Möglicherweise weil die Leinwand schon voll bemalt oder weil es als Happening konzipiert war. Man weiß es nicht, und ein bisschen Ratlosigkeit bleibt zurück, obwohl mehrere Zuseher*innen eine Zugabe zu erwarten scheinen. Daran anschließend schmilzt das Trio Gush zum Duo, da Raymond Strid verhindert ist. Also beglücken Mats Gustafsson und Sten Sandell zweisam. Leider nur kurz, weil die Rezensentin abreisen muss.
Tag Drei: Da capo bei Wien Modern
Am dritten Tag vertrautes Wiederhören: Otomo Yoshihide & Sachiko M & Axel Dörner & Martin Brandlmayr gastieren im Echoraum in Wien. Ein Genuss, und tatsächlich: Yoshihides Darbietung ist im Konzertraum in der Sechshauser Straße wirkungsvoller als in Wels, was an Übersättigung oder zu großem Abstand von der Bühne gelegen sein mag. Darum möchte ich meine Schilderungen aus Wels um die Eindrücke aus dem Echoraum erweitern, auch wenn damit Themenverfehlung droht. Zu sehen, wie jemand mit dem einen Tonträger über einen zweiten, der als Nadel fungiert, welcher den Tonabnehmer trägt, Musik macht, ist schon sehr faszinierend. Auch die Perkussion kommt besser zum Tragen. Die hochfrequenten Töne klingen weniger spitz und das Blasinstrument stimmungsvoller. Dass Otomo Yoshihide nur sehr wenig Gitarre spielt, ist ein Wermutstropfen. Sei’s drum, dieser Nachschlag verstärkt die positiven Erinnerungen an Music Unlimited 2024.